Seit der Abfahrt aus Augsburg versuchte Marc vergeblich, sich einen passenden Text für eine SMS einfallen zu lassen.
Ein weiterer Versuch: »Sehr geehrte Frau ...« Nein, viel zu förmlich.
Er lehnte sich zurück und sah nach draußen. Dicke Schneeflocken wirbelten am Fenster vorbei.
Das gleichmäßige Rattern der Eisenräder auf den Schienen brandete heute besonders heftig an seine Ohren wie aufgewühlte Meeresbrandung an schroffe Felsen.
Wie er Zugfahrten hasste. Aber heute war ihm nichts anderes übriggeblieben, da sein Wagen in der Werkstatt war. Zumindest hatte er das Abteil für sich alleine. Außerdem entging er so dem heftigen Schneesturm, der eine Fahrt auf der Autobahn zu einem gefährlichen Abenteuer gemacht hätte.
Er stand auf und lugte so weit wie möglich in den Gang. Zwei Abteile weiter saß die etwa dreißigjährige Johanna, die Frau seiner Träume. Im Vorbeigehen hatte er sie an ihrem schwarzen Lockenkopf erkannt. Sie arbeitete in der gleichen Firma wie er. Aber eine Begegnung außerhalb des Betriebsgeländes hatte sich noch nie ergeben, da sie stets mit dem Zug fuhr und er mit dem Auto.
So hatte diese ungeplante Fahrt vielleicht doch noch etwas Gutes.
In etwa zwanzig Minuten würden sie in München ankommen und dann ihrem Arbeitsplatz entgegeneilen. Seine letzte Chance vor den Weihnachtsfeiertagen. Ob er im neuen Jahr den Mut finden würde? Bis dahin konnte noch so viel passieren, also: Jetzt oder nie!
Konzentriere dich! Denk an das letzte Betriebsfest.
„Was haltet ihr davon“, warf sie damals locker in die große Runde und hob ihr Rotweinglas, „wenn wir zum »Du« übergehen, schließlich sind wir Kollegen - ich bin Johanna.“
Marc stand auf und betrachtete sein Spiegelbild in einem Fenster. Mit seiner etwas zu groß geratenen Nase und der beginnenden Glatze war er kein Hauptgewinn, das war ihm bewusst.
Selbst überrascht von seiner plötzlichen Entschlossenheit trat er auf den Gang. Er ignorierte das flaue Gefühl in seinem Bauch und marschierte los.
Nur aus den Augenwinkeln erspähte er Johanna im Vorbeigehen. Dann stand er vor der Tür zum Speisewagen und versuchte, seinen Puls aus der Erdumlaufbahn zurückzuholen.
Was soll ich jetzt tun?
Natürlich könnte ich sie fragen, ob ich sie zur Firma begleiten dürfte. Aber muss sie mich dann nicht für einen kompletten Idioten halten?
„Fällt dir keine bessere Anmache ein?“, würde sie bestimmt sagen ... oder zumindest denken.
Marc drehte sich abrupt um, kam ins Straucheln, erhaschte kurz einen Blick aus ihren neugierigen blauen Augen, bemerkte ein Lächeln und stolperte seinem schützenden Abteil entgegen, empfindlich geworden wie ein Einsiedlerkrebs, der ohne sein Muschelgehäuse das Meer durcheilt.
Erleichtert sank er auf seinen Sitz, schlug die Hände vor das Gesicht und drückte die Finger so fest auf die geschlossenen Augen, dass die Farben an der Innenseite seiner Lider explodierten.
Dann schüttelte er den Kopf aus und wartete, bis sich die Gedanken in seinem Schädel beruhigt hatten, wie Billardkugeln nach einem Eröffnungsstoß.
Vielleicht war es gar kein Mitleidslächeln, versuchte er sich Mut zu machen. Und überhaupt, jetzt ist schon alles egal, schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Erneut nahm er sein Smartphone und begann zu tippen.
»Liebe Johanna, könntest du dir eventuell vorstellen, zu einem gegebenen Zeitpunkt mit mir ...« DELETE.
»Wäre es dir irgendwann vielleicht möglich, dass du mit mir ...« DELETE.
»Ich wäre sehr glücklich, wenn es dein Zeitplan hergibt ...« DELETE.
Marc sackte in sich zusammen. Mit geschlossenen Augen schickte er ein Stoßgebet zum Himmel - ein kleines Tauschgeschäft mit dem lieben Gott.
Letzter Versuch! »Liebe Johanna, ich würde dich sehr gerne zum Essen einladen. Kenne einen hervorragenden Italiener in Nähe der Firma. Freue mich auf deine Antwort. LG vom Kollegen aus dem übernächsten Abteil.«
Im Adressbuch tippte er auf ihre Nummer, die er während des Betriebsfestes aufgeschnappt hatte und schickte die Nachricht ab. Na also, die SMS ist unterwegs.
Völlig erschöpft saß er da, den Blick unentwegt auf sein Smartphone gerichtet.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kehrten seine Lebensgeister zurück. Er stand auf, sah in den Gang und zuckte zusammen. Johanna war aufgestanden und ging in Richtung ... Schaffner.
Das war`s. Es ist aus. Sie beschwert sich und ich bekomme eine Abmahnung. Oder ... schlimmer noch, eine Anzeige wegen sexueller Belästigung. Ich bin geliefert.
Mit hängenden Schultern und mit leerem Blick starrte er vor sich hin.
„Heute Abend würde es mir sehr gut passen.“
Marc starrte Johanna an wie einen Eisbären, der sich im tropischen Dschungel verirrt hatte.
„Aber ...“, stammelte er, „ich dachte, Sie ... du wolltest dich beim Schaffner …“
„Entschuldige, ich wollte dir gleich antworten, aber ich musste noch schnell auf die Toilette.“ Ihre Stimme war melodisch wie der Klang einer gut gestimmten Geige.
Marc starrte sie mit offenem Mund an.
„Also, wenn es heute Abend ungünstig ist, dann ...“
„Nein ... doch ... äh, heute Abend wäre toll.“
„Schön, du weißt ja bestimmt, in welchem Zimmer ich arbeite. Wie ist eigentlich dein Vorname?“
Marc sah sie an, als ob sie ihn um die Erklärung der Relativitätstheorie gebeten hätte.
„Mein Vorname ... also ich heiße ... Marc.“
„Na gut, geheimnisvoller Marc, dann haben wir schon Gesprächsstoff für heute Abend. Ich freue mich. Also bis später.“
„Ich werde da sein ... um fünf vor deinem Büro … und ... danke!“
Ungläubig betrachtete Marc Johannas anmutigen Gang, bis sie wieder in ihrem Abteil verschwunden war.
Die Geräuschkulisse des fahrenden Zuges im Sturm summte lieblich wie eine Stimmgabel.
Tänzelnd bewegte er sich an seinen Platz zurück und dankte dem Himmel für diesen wunderbaren Tag.
Für Marc war Weihnachten bereits heute.