„Gehen wir ein wenig an den Strand?“
Isabel steht schon mit gepacktem Flechtkorb und Niclas an der Hand am Fußende des runden Bettes.
„Hmmmm.“, brumme ich. Am Horizont sind weiße Wolkenberge zu sehen. Die willkommene Abkühlung naht. Es gilt, die Zeit bis dahin zu nutzen. Isabel ist die Frau meiner Träume, ich kann ihr nichts abschlagen. Aber eigentlich will ich ein Nickerchen machen. Die tropische Wärme schlägt mir aufs Gemüt und die viel besagte Siesta drängt sich mir seit dem ersten Urlaubstag auf. Dagegen kommt selbst mein Arbeitstier nicht an.
„Na los komm, du faule Socke!“, scherzt sie und wirft ein Kissen nach mir.
Lachend springe ich auf: „Na warte!“ Mit wenigen schnellen Schritten habe ich sie eingeholt, hebe ihren zierlichen Körper in die Luft und dann aufs Bett. Niclas hüpft neben uns auf und ab, lässt sich fallen und kuschelt sich an uns, als wir in einer tiefen Umarmung versinken. Ich sauge den Duft ihres Nackens ein: Jasmin - und fühle mich wieder wie frisch verliebt. Zärtlich knabbere ich an ihrem Ohrläppchen.
„He, spar' dir das für heute Abend“, flüstert sie mir mit Nicken zu unserem Sohn ins Ohr.
Verliebt küsse ich sie und gehe ins Bad, um mein Shirt zu suchen.
„Wir gehen schon vor“, höre ich Isabel durch den Türspalt.
„Ist gut.“ Ich genieße den Urlaub, wirklich. Doch ein reiner Strandurlaub mit Sonnen und Nichtstun erfüllt mich nicht.
Lustlos packe noch das Mobiltelefon ein und die Schlüsselkarte des Ferienhauses ein. Einzig die Aussicht auf eine Schwimmeinheit lockt mich, weniger der Strand - Milliarden Sandkörnchen, die hinterher in Tasche und Kleidung nisten, auf wundersame Weise auch auf das Bettlaken kommen, reibend an den Körper gelangen und dort den Schlaf stören. Ich seufze leise, überlege nach einem Sommerhit und pfeife einige Takte.
Schlendernd bewege ich mich im Rhythmus meines Kopfradios nach draußen, schwüle Mittagshitze erwartet mich, doch vom Strand weht eine kühle Brise. Die erste seit unserer Ankunft. Niclas sitzt mit Eimer und Schaufel im Sand. Isabel sonnt sich auf einer der wenigen Liegen. Entfernt tummelt sich ein Pärchen im Wasser, die anderen Urlauber und Einheimischen gönnen sich jetzt eine Pause.
Ich lege meine Tasche mit Mobiltelefon bei Isabel ab und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Mit dem Duft von Jasmin in der Nase, begebe ich mich in die salzigen Fluten. Das Wasser ist angenehm warm und kribbelt. Salz auf meinen Lippen. Mit kräftigen Zügen schwimme ich gegen die Wellen an und hinaus bis zur Boje, genieße die frische Brise und beobachte die Segelboote auf dem Wasser. Die Wolken am Horizont, die weiß das Licht der Sonne reflektieren, kommen näher und bringen Hoffnung auf einen abkühlenden Schauer. Nie wieder tropische Inseln, das hatte ich mir bereits am ersten Tag geschworen. Ständig ist man verschwitzt und durchnässt, die intensiven Schauer bieten nur kurz Erholung, das Essen verträgt sich kaum mit meinem Körper. Ich will eher etwas unternehmen, sehen, Bildung, Aktivität. Das kleine Gym der Ferienhausanlage befriedigt mich keineswegs.
Eines der Segelboote schlingert, droht zu kentern und bleibt in letzter Sekunde aufrecht. Wohl der erste Segeltörn unerfahrener Touristen. Doch dann schwanken mehrere, Wind und Wellengang nehmen zu.
Es fröstelt mich kurz. Konnte das überhaupt sein, oder hat mir mein Körper nur einen Streich gespielt? Der Wind nimmt zu. Hektische Rufe übers Wasser, die Boote kehren an den Steg zurück. Auch ich schwimme Richtung Strand, die Wolkenmasse nähert sich schnell. Das Sonnenlicht wird verschluckt und die weißen Watteberge wandeln sich in dunkelgraue bedrohliche Gewitterwolken. Isabel schaut kritisch zum Himmel. Ich winke ihr, schwimme weiter. Niclas sitzt trotzig im Sand und weigert sich zu gehen.
Sobald ich aus dem Wasser laufe, rufe ich ihn. Meine Haare kleben nass am Rücken, als ich ihn hochhebe. Tränen stehen in seinen großen Augen, aber er versteht auch, dass das Wetter umschlägt und wir ins Haus zurückmüssen. Die Wolken hängen bleischwer über uns. Ich nehme ihn auf den Arm, Isabel trägt unsere Sachen. Mittlerweile bläst ein kalter Wind vom Meer auf die Insel. Die Palmen biegen sich und berühren mit ihren Wedeln fast den Erdboden. Zwischen den Ferienhäusern ist hektisch das Personal unterwegs.
„Wir bitten alle Gäste, ins Haupthaus zu kommen. Nehmen Sie dringend benötigte Medikamente und Wertgegenstände aus den Ferienhäusern mit sich. Im Speiseraum stehen Ihnen Getränke und Snacks zur Verfügung. Bitte melden Sie sich am Empfang.“ Einer der Reisebegleiter wiederholt die Durchsage in verschiedenen Sprachen mit einem Megafon. Entfernt ist eine Warnsirene zu hören. Gemurmel unter den Gästen.
Als wir den Speisesaal erreichen, ist er voller hektischer Menschen. Während andere Diskussionen über zu große Taschen führen, hält Isabel ihren kleinen Rucksack, in dem immer alles Wichtige ist, wie einen Schatz fest.
Lautsprecher knacken, dann ertönt leise Musik, die gegen das Stimmengewirr kaum ankommt.
Eine Frau läuft hektisch zwischen den Tischen umher. Ich erinnere mich, sie zuvor mit zwei jungen Männern gesehen zu haben. Jetzt kommt sie zu uns und hält uns ein Foto entgegen: „Habe Sie meinen Sohn und seinen Verlobten vielleicht gesehen? Sie wollten einen Ausflug machen?“
„Tut mir leid, nein. Wir waren am Strand.“ Sie geht weiter, zeigt den nächsten das Foto. Offenbar kann sie sie nicht erreichen. Trotz der geschlossenen Fenster höre ich den Wind heulen. Niclas kuschelt sich fest an Isabel, die ihm beruhigend über den Rücken streichelt.
Ich bemerke eine leichte Gänsehaut auf ihrem Arm. Ja, es ist tatsächlich trotz der vielen Menschen und geschlossenen Fenster kühl. Und das auf einer tropischen Insel. Irritiert sehe ich nach draußen. Das Meer peitscht an den Strand, lose Dinge wehen durch die Luft, Handtücher und Kleidung vollführen mit Plastiktüten einen wilden Tanz. Sonnenschirme fallen zu Boden, der Wind schleift sie ein Stück mit.
„Vielleicht sollten wir kurz zu Hause anrufen, damit sie sich keine Sorgen machen, wenn sie von diesem Sturm hören.“
„Das können Sie vergessen“, eine resolute Dame unterbricht Isabel und hält ihr das Mobiltelefon hin: „Kein Netz. Seit die Sirene losging. Deshalb weiß Britta auch nicht, wo ihre Jungs sind“, ergänzt sie mit einer nickenden Kopfbewegung. Gleichzeitig erlischt die Deckenbeleuchtung und der Speisesaal ist in bleigraues Halbdunkel gehüllt.
‚Na klasse. Toller Urlaub.‘ Wut steigt in mir auf. Und Hass. Auf mich selbst, auf Isabel, die sich diesen Urlaub gewünscht hat und der ich nichts abschlagen kann. Ich springe auf, sehne mich nach Bewegung und Einsamkeit. Klopfend prasselt der Regen gegen die Scheiben. Immer lauter. Erst kleine Körnchen, dann Hagel in der Größe von Hühnereiern bleibt auf der Terrasse und dem Weg liegen. Das einheimische Personal quasselt aufgeregt, leichte Panik. Offenbar der erste Hagelsturm ihres Lebens. Decken werden verteilt, die Kälte drückt über die große Glasfront unbarmherzig herein. Die Menschen rücken zusammen, zumindest teilweise. Dicke Schneeflocken fallen schräg nach unten, grisseln gegen die Fenster und vollführen, getrieben von starken Windböen, einen wilden Tanz in der Luft. Vereinzelt sind abgerissenen Palmwedel dazwischen.
Heiße Getränke und Platten mit Snacks werden auf die Tische gestellt. Die Masse schaut schweigend, schlürfend und kauend dem Sturm zu. Selbst die Kinder machen keinen Mucks. Krachend knicken Palmen wie Streichhölzer. Der Sturm trägt sie mühelos durch die Luft, schleift sie über den Strand und die Terrasse, vorbei am Haus. Erleichtertes Aufatmen.
Die dünnen Scheiben vibrieren im tosenden Sturm. Weitere Sträucher und Bäume, teils entwurzelt, teils gebrochen, sind im weißen Getöse zu sehen.
Unvermittelt rammt die Krone einer riesigen Kokospalme das Fenster. Klirrend zieht sich ein Riss durch das Glas. Vor der Einschlagstelle reißt es in alle Richtungen. Der Wind drückt unnachgiebig dagegen. Die Gäste in Fensternähe haben bereits ihre Plätze verlassen, Stühle rücken zusammen, aufgeregtes Getuschel. Ich rieche die Angst, die in den Gesichtern zu lesen ist.
Scheppernd zersplittert die Scheibe in tausende Teile. Kälte wie unzählige Nadelstiche auf der Haut, als eisige Luft hereinweht und in den Lungen brennt. Die dünnen Fleecedecken halten sie kaum von unseren Körpern ab. Innerhalb von Sekunden bibbern die ersten, auch ich kann das Zähneklappern nicht unterdrücken. Trotzdem gebe ich Niclas meine Decke und wühle in der Tasche nach der Jacke, die er gern im Flugzeug anzieht. Zwiebelschalenprinzip. Dann sehe ich mich um. Die Flüssigkeit in Gläsern und Tassen ist gefroren. Doch hier drinnen sind wir wenigstens geschützt vor dem Wind. Als hätte der Sturm meine Gedanken gehört, knarrt das Gebäude verdächtig. Frierend und ängstlich drängen sich alle dicht an dicht. Erst hebt das Dach an einer Stelle etwas ab und legt sich wieder zurück, dann reißt es mit einem Mal vollständig herunter. Der Sturm trägt es davon, als wäre es ein Blatt Papier. Die Schreie aus den offenen Mündern kann ich nur noch erahnen. Augenblicklich sind wir eingehüllt in kalte Flocken. Gesichter mit roten Nasen und blau gefrorenen Lippen schauen ängstlich umher.
„Sam!“, das ist die Stimme von Isabel. Sie klingt weit weg. Der Wind hat sie gepackt und trägt sie mit Niclas hoch in die Luft.
„Sam, komm.“ Unerwartet steht sie vor mir, als ich blinzle. Ich liege auf dem runden Bett in unserem Ferienhaus. Verwirrt blicke ich mich um. Isabel steht mit Niclas und ihrem Flechtkorb am Fußende.
Am Horizont türmen sich weiße Wolkenberge.