Mein Freund Alfred, Fredy genannt, ist ein bodenständiger Mensch, mit bereits in jungen Jahren festgelegten Ritualen, Kalendersprüchen zugetan und mit einer Vorliebe für Hausmannskost. Unsere Donnerstagsgruppe, 12 Männer, die zum Kartenspielen oder Kegeln zusammenkommt, beginnt immer mit einem gemeinsamen Essen, wobei jeder reihum bestimmen kann, welche Speisen aufgetragen werden. Bei Erbseneintopf mit Einlage, Eisbein mit Sauerkraut oder Grünkohl mit Pinkel lebte Fredy richtig auf. Sobald aber etwas Exotischeres aufgetischt wurde, beklagte er sich: zu scharf, zu fad, zu eklig, usw. Dabei handelte es sich um Hähnchen mexikanisch, Fisch süßsauer oder Lammkotelett türkische Art. Selbst Currywurst und gefüllte Champignons fanden keine Gnade.
An einem Donnerstag im Frühjahr, nachdem Fredy wieder einmal seinen Unmut gegenüber einem ausgezeichneten Gyros bekundet hatte und demonstrativ nur zwei Käsebrote vertilgt hatte, waren wir uns einig etwas zu unternehmen. Bereits nach kurzer Beratung beschlossen wir, dass wir Fredy dazu bringen wollten, einen Döner aus Hähnchenfleisch zu verzehren, wenn es sein müsste, auch gegen seinen Willen.
Hinterrücks wurde unser Freund überrumpelt. Als er gerade Platz genommen hatte, griffen viele Arme zu und zwangen ihn zu Bewegungslosigkeit. Durch Kitzeln und sanfter Gewalt wurde er gezwungen, seinen Mund zu öffnen, um die Speisen aufzunehmen. Es gelang uns ihn zum Verzehr einiger weniger Bissen zu nötigen, doch als wir ihm die Freiheit wieder gaben, stürzte er hinaus, übergab sich augenblicklich und lief nachhause. Wir waren erstaunt und auch beschämt, denn dieses Ergebnis hatten wir nicht vorhergesehen. Umso größer war unser Erstaunen, als am nächster Donnerstag Fredy wieder erschien und mit keinem Wort das peinliche Vorkommnis erwähnte. Nach einigen Wochen hatten wir die Angelegenheit vergessen oder zumindest verdrängt.
Unsere alljährliche Vereinsfahrt führte und bereits in viele Gegenden Deutschlands, wobei wir neben einem kulturellen Programm auch die kulinarischen Eigenheiten der jeweiligen Gegend kennenlernen wollten. Dabei tat sich Fredy meistens als Verweigerer der Speisen hervor, wenn er auch den unterschiedlichsten Obstbränden nicht abgeneigt war. Daher waren wir sehr erstaunt, als er uns mitteilte, die Organisation unserer Fahrt übernehmen zu wollen. London sollte das Ziel sein, gefolgt von dem Besuch eines sogenannten Spukschlosses. Begeistert wurde der Vorschlag einstimmig angenommen.
Der englische Herbst erfüllte unsere Erwartungen. Der Besuch Londons wurde von einem typischen Nebel begleitet, der allen Vorurteile gegenüber dem Inselwetter recht gab. Nach den Sehenswürdigkeiten waren wir froh in einem der gemütlichen Pubs einzukehren und uns bei Shepherd`s pie, Ale und Gin aufwärmen zu können. Alles verlief prächtig und Fredy wurde mit Lob über die gelungene Fahrt überhäuft. „Wartet noch“, sagte er, „der Höhepunkt kommt noch“. Damit war der Besuch des Schlosses gemeint, inklusive Gespenster, Diner im Rittersaal und Übernachtung mit Überraschungen.
Mehrere Londoner Taxis chauffierten uns zum Ort der nächsten Events. Das Schloss glich der Kulisse eines alten Krimis aus den 60ern. Das Personal, bestehend aus Butler, zwei Diener und dem Koch mit Gehilfen, passte genau in das Ambiente. Die Zimmer waren geräumig, mit Baldachinbett, Waffen an den Wänden und knarrenden Dielen. Herrlich! Wir zogen uns für das abendliche Menü um und fanden uns vollzählig zum Gin and Tonic an der Bar ein. Ein Gong ertönte und der Butler bat uns in den Salon. Stilecht brannten Kerzen in silbernen Leuchtern, auf dem Tisch wartete edles Geschirr mit glänzendem Besteck, Gläser aus Kristall und Damast, Servietten wetteiferten mit einem Tafelaufsatz, der gewaltig in der Mitte der Tafel thronte. Wir blieben beeindruckt stehen. „Kommt, Freunde! Der Abend hat noch nicht richtig begonnen. Ihr sollt auf eure Kosten kommen und diesen Abend niemals vergessen!“. Wir hatten keinen Zweifel, dass Fredy recht behalten würde.
„Meine Herren“, der Butler sprach zu uns, nachdem wir in den überdimensionalen gepolsterten Holzsesseln Platz genommen hatten.
Wir kamen uns vor wie bei Arthus Tafelrunde. „Die Tradition unseres Hauses sieht einige Besonderheiten vor. Um eine Mahlzeit in einem Spukschloss möglichst original zu genießen und um den Eindruck des Ausgeliefert sein an beängstigende, gräuliche oder gruselige Vorkommnisse zu erfahren, ist es unumgänglich, dass es ihnen unmöglich ist diesen Raum zu verlassen. Wir werden ihre Hände an den Armlehnen ihrer Sessel fixieren. Keine Angst! Sie bekommen ihre Bewegungsfreiheit gleich nach dem Dessert wieder.“ Ein Raunen ging durch den Saal. „Bitte, meine Herren! Wir machen dies nicht zum ersten Mal und bis heute hat sich niemand über einen Mangel an unvergesslichen Eindrücken beschwert. Meine Kollegen und ich werden sie nun mit vorinstallierten Ledermanschetten fesseln“.
Fredy wurde als erster durch den Butler fixiert. Die übrigen fügten sich, einige eher widerstrebend. „Jetzt geht’s los“ dachte ich. Keineswegs.
„Wir haben ihnen ein Menü aus internationalen Spezialitäten und auserlesenen Genüssen der jeweiligen Landesküchen vorbereitet. Damit sie jedoch in den ungestörten Genuss dieser Speisen kommen, werden sie in einem lichtlosen Raum serviert. Wir werden die Kerzen löschen, damit absolute Dunkelheit herrscht. Die Bedienung, die eine Infrarot-Brille trägt, wird sie kurz an der Schulter berühren. Daraufhin bitten wir sie den Mund zu öffnen, damit sie die Speise entgegennehmen können. Nach dem Verzehr wird ihnen das Originalgericht präsentiert. Ich wünsche ihnen viel Vergnügen beim Raten und Genießen!“. Die Kerzen erloschen und eine bleierne Stille erfüllte den Raum.
„Gang Nummer 1“. Ich spürte eine Berührung an der Schulter und öffnete den Mund. Etwas Weiches, in der Konsistenz an Quark erinnernd, mit kaum wahrnehmbaren Nussgeschmack traf auf meine Zunge. Ziemlich nichtssagend.
Schnell schluckte ich die Sache hinunter. Ich erwartete jetzt die Aufklärung. Hörte stattdessen: „Gang Nummer 2“. Diesmal war es etwas Fleischiges. Nicht schlecht. Würzig. So kann es weitergehen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was mir in den Mund geschoben wurde. „Gang Nummer 3“. Wieder etwas Weiches. Schmeckt nach Zitrone und Knoblauch. Zu glibberig für mich. „Gang Nummer 4“. Wieder etwas Festes. Knusprig. Leicht gesalzen, wie Chips. Bis jetzt haut mich die Auswahl nicht um. Etwas zu trinken wäre gut. „Wie wäre es mit einem Getränk?“. Ein Glas berührte meine Lippen. Ich hätte mir etwas Wein oder zur Not auch Wasser gewünscht. Es war ziemlich fettige Milch. Na ja! Besser als nichts. „Gang Nummer 5“. Ganz eindeutig Käse. Feiner Geschmack. Man hat das Gefühl als würde er auf der Zunge verlaufen. Könnte ich mich daran gewöhnen. „Gang Nummer 6“. Eindeutig faulender Fisch. Der Geruch war ekelerregend. Bevor ich mich versah, hatte ich ein Stück dieses Abfallprodukts im Mund und meine Kiefer wurden zugehalten, sodass mir nur Schlucken übrigblieb. „Sofort aufhören!“. Wir redeten alle gleichzeitig. Das hatte zur Folge, dass wieder ein weiterer Bissen eingeführt wurde. Ich versuchte vergebens meine Fesseln zu lösen, aber ohne Erfolg. Wir mussten uns fügen und die Operation bis zu Gang 14 aushalten.
Schließlich wurden wir von fremden Personen befreit, die vorgaben, nichts von dieser privaten Feier zu wissen. Bei der Abreise bemerkten wir, dass Fredy fehlte. Allerdings fand jeder ein Schreiben in Mantel oder Jackett. Unser Freund hatte uns Folgendes mitzuteilen:
Liebe Freunde! Ich bitte um Euer Verständnis dafür, dass ich mich noch nie so amüsiert habe, wie heute. Durch dieses kleine Experiment habe ich versucht Euch das Gefühl zu vermitteln, das mich überkommt, wenn ich etwas Essen soll, das ich für eklig halte. Zunächst wollte ich Euch nach jedem Gang aufklären, aber dann wäre die Durchführung schwerer oder gar unmöglich geworden, obwohl alle Gerichte keine Gefahr für Leib und Leben bedeuten und im jeweiligen Land als Spezialitäten und Gaumenschmaus gelten. Also jetzt hier die vollständige Liste der „Spezialitäten“:
Rohes Affenhirn, Rattengulasch, Quallensalat, gegrillte Schaben, Muttermilch als Getränk, Schafskäse mit Maden, norwegischer Surströmming, ...
Ich konnte nicht weiterlesen, denn ich spürte, wie mich ein Gefühl von Ekel und Grusel überkam. Der Brief schloss mit den Worten: Ich hoffe, dass Ihr mich jetzt besser versteht. Geschmack bleibt eine persönliche Sache. Bis nächsten Donnerstag.
Euer Freund Fredy