Alter! So einen Kopf hatte ich noch nie. In meinem Schädel schwirrt und summt es. Meine Augen sind lichtempfindlich, wie bei einer Migräne. Laute Geräusche bringen mich an den Rand des Wahnsinns. Klar wirkt es im ersten Moment wie damals, als ich noch migränegeplagt war, aber das habe ich dank einer Hormonumstellung in den Griff bekommen.
Nee, die Ursache lautet Whisky. Und Whisky-Cola, Whisky on the Rocks, Gero, Frieda und Anna und Bacardi-Cola.
Eine solche Ziehung hatte ich zuletzt Mitte 20. Aber damals ohne Filmriss.
Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal, in wessen Bett ich gerade liege. Mein Verlobter Franz wird mich umbringen. Wir wollen am Wochenende heiraten. Frieda und Anna haben mir daher die Partynacht meines Lebens verpasst. Gero, mein homosexueller Kumpel, war natürlich mit von der Partie. Eine kleine Forderung von Franz, der wir selbstverständlich nachkamen. Franz dachte wohl, dass der eine Anstandsdame mimen würde. Blöderweise hat er falsch gedacht. Ab einem gewissen Pegel ist selbst bei Gero der Anstand vorbei.
Okay, mal sehen. Was entdecke ich hier?
Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, meine Umgebung wahrzunehmen.
Äh, ist das etwa mein Slip dort auf dem Boden? Shit! Der sieht wirklich rüschig-rot aus, wie ihn mir Anna gestern für die Feier aufgezwungen hat. Ja, sie hat mein komplettes Outfit geplant. Nicht mal die Unterwäsche durfte ich selbst wählen.
Also taperte ich mit einem Mini-Rock über einer eleganten Leggins und einem neongelben bauchfreien Top in eine Dorfdisco, dem „Beat“. Wer hier hingeht, wird bereits für 20 Euro stockbesoffen und hat am Ende immer noch fünf Euro übrig. Die Disse lebt von den billigen Preisen, wegen derer die Städter massenweise angestürmt kommen und sich mit den Schönheiten vom Dorf einlassen.
Oha, die Bettwäsche ist ja extravagant. Welcher Dörfler kann sich denn Joop-Bettwäsche leisten? Ruckartig drehe ich meinen Kopf auf die Bettseite neben mir.
Whoa, was ist das? Das Bett bewegt sich! Boah, mir wird schlecht. Das ist ein Wasserbett.
Bloß nicht bewegen, mein Gleichgewicht verkraftet das noch nicht.
Sicherheitshalber belasse ich es vorerst bei Augenbewegungen.
Wer kann hier bloß gelegen haben? Ein Mann? Oder gar eine Frau? Gero, Anna und Frieda scheiden aus. Keiner von den dreien hat ein solches Bett. Außerdem sind die im Hotel. Sollten sie zumindest.
Und ich? Sieht eher nach einer netten privaten Bleibe aus.
Ob ich rufen sollte?
Nein, ich will es eigentlich nicht wissen. Schlimmstenfalls habe ich Franz hintergangen, bevor wir verheiratet sind. Mein Verlobter ist meine Rekordbeziehung. Normalerweise werden mir die Partner nach drei Monaten langweilig, sodass ich schnell den nächsten am Start habe. Bei Franz ist es diesmal anders. Er konnte mich über sechs Monate bei sich behalten und machte mir einen Heiratsantrag. Inzwischen sind wir 24 Monate zusammen. Ich dachte, ich bin mein „der-Typ-wird-langweilig-Problem“ endlich los geworden.
Hach, wie schnell Alkohol ernüchtern kann.
Und nun? Wo ist eigentlich mein Handy? Oder mein Portmonee?
Sollte ich versuchen, vom Bett aufzustehen? Geht das ohne Kotzen?
Ach was, ich wage es einfach.
Ich würde gern sagen, dass ich mich in Mission-Impossible-Manier vom Bett rolle, um elegant zum Stehen zu kommen, aber das kann ich nicht. Mein Körper will mir kaum gehorchen. Jeder Teil scheint ein Eigenleben zu haben. Unsanft knallt mein Kopf auf den Boden, mein Oberkörper rutscht hinterher, mein Po geht in die Luft, und meine Beine? Das rechte bleibt auf dem Bett und vom linken weiß ich nicht, ob ich es überhaupt noch habe.
Moment, jetzt setzt ein heftiges Kribbeln ein. Sauerstoffhaltiges Blut fließt in jeden Bereich meines linken Beines und verursacht mir tierische Schmerzen. Neben dem alkoholbedingten Kopfweh, zu dem sich der Stoß vom missglückten Aufstehversuch fügt.
Schmerzgeplagt stöhne ich und hoffe auf eine Besserung. Nach gefühlten 10 Minuten tritt sie endlich ein. Das Kribbeln ist um einiges erträglicher. Sogar mein Kopf schmerzt weniger.
Aufstehen ist dennoch ein Akt. Also, meine Beine tragen mich einigermaßen, aber die Oberschenkel reagieren mit Muskelkater. Und mein Rücken hat heute keinen Bock auf gerade sein. Viel mehr stelle ich mein eigenes Selbst mit 80 Jahren dar.
Kleidungstechnisch bin ich spärlich ausgestattet, lediglich mein BH ist dort wo er hin gehört. Immerhin muss ich mir keine Gedanken machen, ob jemand meine leicht hängende Brüste bemerkt hat.
Schwankend gehe ich im Raum umher. Mehr erlaubt mein Gleichgewicht nicht. Die Absprache zwischen Muskeln und Gleichgewichtsorgan muss mein Gehirn erst wieder in Gang bringen.
Erschwerend kommt hinzu, dass meine Augen keinesfalls den vollen Dienst ausführen wollen.
Hmmmgrmpf.
Reflexartig greife ich einen Gegenstand in meiner Nähe und übergebe mich darin.
So, jetzt fühle ich mich etwas besser. Und mein Sehsinn schärft sich ein bisschen.
In was habe ich gerade gekotzt?
Uuups, das ist ja ein Strohhut.
Egal, ich stelle ihn einfach an seinen Platz zurück und hoffe, dass alle anderen Gerüche im Schlafzimmer meine Kotze überdecken.
Weil meine Übelkeit nicht mehr im Hals hängt, sondern in meinen Bauch zurückgewandert ist, wage ich es, zu gehen.
Fühlt sich besser an.
Als Nächstes versuche ich, meinen Slip zu erhaschen. Chancenlos. Bücken ist ausgeschlossen. Und mit dem Fuß aufheben, scheitert an meiner deutlich reduzierten Koordination und meinem Gleichgewicht.
Zaghaft öffne ich die Schlafzimmertür. Vor mir liegt ein langer Flur ohne Fenster, dafür mit Lampen, die auf Bewegung reagieren.
„Ist jemand da?“ Krass ey! Meine Stimme ist ein Mix aus Frosch und Krähe.
Gespannt warte ich auf die Reaktion eines anderen Menschen.
Nichts. Auch auf ein weiteres Frosch-Krächzen von mir gibt es keine Antwort.
Wunderbar … oder auch nicht, denn ich bin allein.
Mit dem Mut des Restalkohols öffne ich die gegenüberliegende Tür. Sie führt zu einem Arbeitszimmer. Hell eingerichtet, golden angestrahlt durch die Sonne. Vom Sonnenstand ausgehend, vermute ich, dass es morgens ist.
Dann fällt mein Blick auf einen Laptop. Der Besitzer lädt gerade eine Datei hoch.
Neugierig wie eh und je, setze ich mich daran und sehe mir das Dokument, das irgendwohin geschickt werden soll, an.
Es ist ein Mix aus Text und Bildern. Partybilder. Und auf allen bin ich zu sehen.
Heftig! Das erste Bild ist die Erklärung für meinen Muskelkater. Mache ich etwa Hüftbeugen während ich auf der Bar stehe und mich … äh … das sieht ja aus wie … Poledance. Ich wusste gar nicht, dass ich das kann.
Und hier. Oh … ich wedel mit dem Rüschsenslip während ich auf Gero reite.
Ah … das sieht ja aus, wie Brautstraußwerfen, nur statt des Straußes, werfe ich meinen Slip … okay. Dann hat mich der glückliche Fänger mit zu sich nach Hause nehmen dürfen.
Beim Lesen des Textes scheitere ich krachend. Das oberste Wort ist zwar in großen Buchstaben geschrieben, doch alles verschwimmt. No way.
Aber Moment, diese gesamte Aufmachung, mit dem Text und den Bildern ist wie ein Artikel. Ja klar, das ist einer über mich. Für einen kurzen Moment stellt sich mein Sehsinn auf die Überschrift ein: Erwischt!
Verdammt, verdammt, verdammt! Hat mich wirklich einer erwischt. Dabei haben wir extra die Dorfdisse aus meinem Heimatdorf gewählt. Es war Annas Idee. Sie meinte, dass ich dann in Ruhe feiern kann und mich keiner bemerkt. Die meisten in meinem Alter sind weggezogen oder erkennen mich nicht mehr. Und einen Promi wie mich vermutet keiner in einer kleinen Dorfklitsche.
Anscheinend lag sie falsch. Ich bin an einen Pressefuzzi geraten.
Urplötzlich ploppt eine Meldung auf. Höchst angestrengt kann ich zwei Worte entziffern: „Upload fehlgeschlagen“.
Mir entfährt ein Keuchen. Wahrscheinlich ein Geschenk des Himmels.
Was mache ich damit?
Klar, löschen!
Ich zwinge meine Augen, ihre übliche Sehleistung zu erbringen und beseitige eilig alles, von dem ich glaube, dass es entweder ein Bild oder ein Text über mich ist. Zusätzlich leere ich den Papierkorb. Hoffentlich gibt es nirgendwo eine Kopie und die Bilder wurden vom Ursprungsgerät bereits gelöscht. Hoffentlich!
Nee, oder? Ein Geräusch ähnlich dem Aufschließen der Tür erreicht mein Gehör.
Was soll ich jetzt machen?
Angespannt lausche ich weiteren Geräuschen.
Mein alkoholgepeinigtes Gehirn schaltet in Flucht um. Es schärft mein Hören und Sehen. Kanalisiert alles auf die beiden Sinne.
Fremdgesteuert gelingt es mir, mich bis zur Wohnungstür zu schleichen. Glücklicherweise unbemerkt. Dem Geklapper nach hantiert der Wohnungsinhaber in seiner Küche herum. Fröhlich pfeifend.
Schließlich öffne ich die Wohnungstür und schiebe meinen Körper aus der Wohnung.
Leise klackend gleitet die Tür ins Schloss. Ich bin draußen.
Fuck!!! Wie konnte ich bloß so dumm sein! Mein Slip liegt noch im Schlafzimmer. Und nicht nur der.
Hektische Schritte und Rufe dringen dumpf durch die Wohnungstür.
Fluchtartig laufe ich die Treppe irgendeines Mehrfamilienhauses hinunter. Wobei laufen das falsche Wort ist. Denn ich stakse, knicke mehrfach um; bis ich schließlich stolper und die letzten paar Treppenstufen herunterrutsche. Zusätzlich bleibt mein BH irgendwo hängen und ratscht laut.
„Whooo hooo! Sie liefern mir ja noch bessere Bilder als gestern auf dem Beat.“ Bevor ich die nackten Bereiche meines Körpers mit meinen viel zu kleinen Händen verdecken kann, höre ich das typische Kamerageräusch eines Handys.
Jetzt ist es komplett egal, ob noch irgendeines der Partybilder existiert.