Sehnsüchtig sitzt sie seit Stunden am Fenster. Ihr Augen fixieren den grauen Himmel. Immer wieder wischt sie im Wechsel über das rechte und das linke Auge. Betet, dass ihr dringlichster Wunsch bald in Erfüllung geht: Schneeflocken vom Himmel fallen zu sehen.
Vor drei Jahren hatte sie ihre Diagnose erhalten. Sie würde ihr Augenlicht verlieren. Ihr Sehnerv ging bereits kaputt.
Betäubt fuhr sie nach Hause und hoffte seitdem auf jeden einzelnen Wintertag. Aber egal wie oft der Wetterbericht Schneefälle vorhersagte, er irrte sich. Es war einfach zu warm geworden über die Jahre.
Angeblich soll heute wirklich Schnee fallen. Das Thermometer zeigt 0 Grad an. Und die Luft ist eisig-trocken. Die Bedingungen für Schneeflocken sind gut. Selbst die Wolken wirken schwer und schneelastig.
Aber das hatte sie in den Tagen zuvor schon ein paar Mal erlebt. Leider blieb der angekündigte Schneefall aus. Stattdessen strahlt sie ein grau-grüner Rasen mit Haufen von ockerfarbenem Laub an. Ihr gewünschtes Weiß glänzt durch seine Abwesenheit.
Früher, als sie ein kleines Mädchen war, war der Schnee selbstverständlich, manchmal sogar lästig. Er ließ ihre blonden Haare gefrieren, färbte ihre Nase rot und pikste sie fies im Gesicht. Damals mochte sie ihn kein bisschen. Seit er immer seltener wurde, bemerkte sie, wie viel er ihr eigentlich bedeutete.
Verblasste Erinnerungen an eine 40 Zentimeter starke Schneedecke, die jedem Auto verbot, die Straße zu benutzen, drängen sich in ihr Gedächtnis. Damals wollten sie Weihnachten zu ihren Großeltern. Wegen des Wetters blieb jedoch der alte Opel Astra ihres Papas auf dem Parkplatz stehen. Der Astra weigerte sich, seine Räder durch die Schneemassen zu quälen. Mit stotterndem Motor gab er zu verstehen, dass er seinen Ruheplatz nicht verlassen würde. Ihre Mama hatte die rettende Idee: Ski laufen. So kam sie mit ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern auf Brettern viel zu spät zum Kaffeetrinken bei ihren Großeltern an. Oma und Opa waren voller Sorge, ob es bei dem winterreichen Wetter überhaupt sinnvoll war, das Haus zu verlassen. Gingen jedoch schnell in die großelterliche Kümmerei über, versorgten alle mit warmen Getränken, Baumkuchen und viel zu vielen Plätzchen.
Dies war der schneereichste Winter, den sie je erlebt hatte. Über die Jahre wurde es immer weniger, aber das fiel ihr zuerst nicht auf. Erst als sie erwachsen war und ihre Liebe zum Wintersport neu entdeckte: Als sie mit ihrem Mann Ski laufen wollte, war es kaum möglich. Zu wenig Schnee war gefallen.
Und heute freut sie sich über jeden Krümel. Jede einzelne Schneeflocke, die ein einzigartiges Kunstwerk ist. Geschaffen von Mutter Natur höchstpersönlich. Zerstört von ihrem Feind den Menschen.
Gespannt sieht sie nach draußen. Wo bleibt er bloß? Ihr verbleibt nicht mehr viel Sichtfeld. Es ist löchrig. Das Sehen strengt sie von Woche zu Woche mehr an. Je stärker sie etwas fixiert, um so mehr verschwimmt es. Und Schneeflocken sind klein. Vielleicht zu klein?
Außerdem dämmert es bereits. Die Kontraste werden schwächer. Sie sind es sowieso schon. Reichen Sie, um die niedlichen Kristalle zu erkennen?
Ihre Augen starren inzwischen tränend nach draußen.
Wird sie noch genug Sehkraft haben, wenigstens eine Flocke vom Himmel fallen zu sehen?


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