Während die Kinder mit ihren Eltern fröhlich die Straßen entlang rennen, von Haus zu Haus laufen und um Süßigkeiten betteln, liege ich einfach nur herum.
Ungeschickterweise verlor ich mein Gleichgewicht und landete auf dem harten Bürgersteig. Alles unter dem fiesen Grinsen eines Kürbiskopfes. Und diese Fratze kommt mir mächtig bekannt vor. Ich weiß nur noch nicht, woher.
Irgendwie wirkt diese Kürbisfratze sehr real. Der Künstler hat echt Talent. Er hat ein Prachtexemplar mit menschlichen Zügen geschaffen. Ihm sogar Lachfalten geschnitzt. Und wenn ich meinen Kopf etwas bewege, komme ich mir vor, als würde mir Madonna mit ihren Augen folgen. Wie geht das? Wieso begafft mich ein Gemüsestück?
Ungewollt geht meine rechte Augenbraue nach oben. Das halloweentypische Kerzenlicht lässt die Augen des Kürbisses dämonisch leuchten. Die neben dem Kürbiskopf aufgestellten Fackeln werfen mit Flackerlicht um sich, unterstützen die kunstvolle Schnitzerei im Gruselig-Aussehen.
Ja, der Hersteller hat ganze Arbeit geleistet. Noch nie fühlte ich mich von einem Gemüse bedroht.
Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten lässt mich sogar glauben, das Kürbisface bewegt seinen Mund.
Vorsichtig stütze ich mich hoch, komme jedoch nur auf meine Knie.
In meinem Kopf dröhnt es. Ein Dröhnen, das mehr einer fiesen Lache ähnelt.
„Na, auf dem Tiefpunkt angekommen?!“
Moment, war das wirklich der Kürbis?
Fies lächelnd starrt er mich an. Wütend blicke ich zurück.
„Na, und? Es geht dich nichts an.“
„Ach, was du nur wieder hast. Ist doch alles halb so schlimm!“
Dieser Kürbisarsch verharmlost meine Gefühle. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen: „Pah! Was weißt du schon? Du musst dich nicht mit Elend rumplagen. Kannst hier dumm alle angrinsen.“
Ohne, dass ich es verhindern kann, berichte ich einem Gemüse von all meinen Problemen.

Wir waren einst ein glückliches Paar. Dachte ich zumindest. Als mein Bauch weiter und weiter wuchs, fing alles an. Er veränderte sich schlagartig, zeigte immer weniger Interesse an mir. Auf meine Frage hin, meinte er, dass er bloß dem Baby keinen Schaden zufügen möchte. Natürlich glaubte ich ihm dies. Oder wollte es. Ich ignorierte sämtliche Anzeichen, verdrehte sie ins Positive. Wenn er lange wegblieb, meinte ich, er macht Überstunden, damit er seine Familie versorgen kann. Und die Wochenenden hat er natürlich nur mit seinen Kumpels verbracht. Schließlich würde er bald auf Partys verzichten müssen.
In der 27. Woche traf mich der Schlag der Erkenntnis. Dieser hätte nicht heftiger sein können.
Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Laute Geräusche an unserer Wohnungstür hatten mich geweckt. Besoffen wie er war, versuchte er die Tür zu öffnen. Sein Erfolg war mäßig, sodass ich nachhelfen musste.
Torkelnd stürzte er auf mich zu. Zuerst wollte er mich umarmen, aber dann schwankte er so heftig, dass ich als Stütze herhalten musste. Sein Atemalkohol sprühte mir ins Gesicht, hinterließ Übelkeit.
Verzweifelt versuchte ich, ihn aufrecht zu halten. Doch sein Gewicht lastete so schwer, dass ich mich um unser Kind sorgte.
Laut rumpsend krachte er auf den Boden. Ein Schwall an gelallten Beschimpfungen ergoss sich über mich. Gerade mal die Hälfte davon konnte ich verstehen.
Dann polterte das Wort „AIDS“ aus seinem Mund.
Trotz seiner alkoholvernebelten Sprache entlockte ich ihm die für mich wichtigen Worte.
Seit einem Jahr schon betrog er mich. Und wie er heute früh erfahren hatte, hat er sich dabei AIDS eingefangen.
Mir lief es eiskalt meinen Rücken herunter. Meine Beine wurden schwach, ich sank zu Boden. Konnte das wirklich wahr sein? Was bedeutete es für mich?
Gleich am nächsten Morgen, einem Mittwoch, suchte ich meinen Arzt auf. Weil der letzte sexuelle Kontakt über sechs Wochen zurücklag, nahm er eine Blutprobe von mir.
Direkt nach dem Arztbesuch informierte ich meine beste Freundin Alina und sie nahm mich bei sich auf. Am späten Abend ging es mir richtig dreckig, sodass Alina den Notarzt rief.
Kurz darauf kam ich ins Krankenhaus. Die Wehen hatten eingesetzt. Leider gab es Komplikationen. Der Stress der letzten Wochen hat meiner Schwangerschaft kein bisschen gutgetan. Ein Notkaiserschnitt wurde nötig.

„Julia?!“ Eine vertraute Stimme, die ich jahrelang nicht mehr gehört habe, dringt an meine Ohren.
„André?“
„Lass dir aufhelfen.“
Kräftige Männerhände greifen in meine Taille, stützen mich hoch.
„Ich habe mich eben gewundert, als ich dich reden hörte – warst ziemlich laut. Zunächst habe ich dich nicht erkannt, aber dann wusste ich, dass du es bist.“
„Was hast du gehört?“
„Alles. Mit wem hast du gesprochen?“
Beschämt schaue ich zu dem Kürbisgesicht. Jetzt kommen mir seine Gesichtszüge bekannt vor: sie erinnern mich an André. Aber irgendwie habe ich mich getäuscht, denn jetzt, wenn ich den direkten Vergleich machen kann, muss mein Gehirn sich viel zusammen gesponnen haben.
„Na ja... Eigentlich mit niemandem.“ Scham kriecht meine Wangen hoch.
„Ist es wahr, was du gesagt hast?“
Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande.
„Erst dachte ich, du bist betrunken. Aber wenn ich dich jetzt so erlebe, bist du stocknüchtern.“
„Ich hatte gestern Abend eine Operation. Mein Kind liegt dort im Krankenhaus. Er musste mit 26 Wochen und drei Tagen geholt werden. Niemand kann mir sagen, was aus ihm werden wird.“
„Geht es dir gut?“ Die typische gesellschaftlich geforderte Frage, deren Antwort dem Fragesteller bereits klar ist.
„Nein. Irgendwie nicht. Ich muss das erst alles verkraften. Die Trennung, die Krankheit, die Operation, die Erschöpfung und meine Hormone. Irgendwie wollte ich einfach nur weg von meinem Leben. Wollte vor dem Anblick meines von Kabeln überzogenem Kind flüchten. Meiner Schuld, den falschen Vater gewählt zu haben. Deshalb ging ich los und bin hier gestürzt. Dann haben mir wohl die Restbestände des Narkosemittels und meine durchgeknallten Hormone einen Streich gespielt. Irgendwie fühlte ich mich von dem Kürbis beobachtet. Habe sogar geglaubt, dass der mit mir redet. Also habe ich ihm alles erzählt.“ Plötzlich erinnere ich mich an die damaligen Gespräche zwischen André und mir, die vor Vertrautheit und Ehrlichkeit nur so strotzen.
„Lass uns zu mir gehen. Ich wohne nur ein Haus weiter.“ Jene alte Vertrautheit macht sich zwischen uns breit.
Dann sieht er mich streng an: „Wieso bist du eigentlich ohne Rollstuhl unterwegs? Und warum hat niemand bemerkt, dass du weggehst?“
Schuldbewusst sehe ich ihn an. Seine Augen strahlen wie damals Tiefgründigkeit aus.
„Ich habe mir eben Schmerzmittel geben lassen und den Rollstuhl im Zimmer gelassen. Ich wollte mich nicht schwach fühlen. Aber irgendwie ist doch alles anders. Es schmerzt heftig, vor Schmerz kann ich nicht mal aufrecht gehen.“
Sein Gesicht verfinstert sich: „Dann werde ich zugleich die Station über deinen Spaziergang informieren.“
Ist er eher sauer auf mich, oder auf das Personal der Station?
„Habe ich richtig gehört, dass du Single bist?“ Mit dieser Frage entspannen sich seine Gesichtsmuskeln, lassen den Anflug von einem Lächeln erahnen.
„Ja, ich habe mich von dem Vollpfosten getrennt. Und du?“
„Seit vier Monaten glücklich geschieden.“
André schlingt einen Arm um meine Taille. Sämtliche vergangene Jahre scheinen, ausgelöscht zu sein. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen.
„Warum haben wir uns damals verloren?“
„Hm, das lag an den verschiedenen Unis, die wir besuchten. Ich habe mich für ein Medizinstudium entschieden und du hast dich für Mediendesign interessiert. Leider war das mit einer großen Entfernung verbunden. Unsere gemeinsame Zeit gab es kaum noch. Darum haben wir uns für eine Pause entschieden, die wohl in ein Ende mündete.“
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dich wiederzutreffen.“ Sein Duft ist betörend wie damals.
„Mir ergeht es kaum anders. Ich arbeite übrigens als Kinderkardiologe in dem Krankenhaus, in dem dein Baby liegt.“
„Wirklich? Ich wohne eigentlich 40 Kilometer entfernt von hier. Wegen der frühen Schwangerschaftswoche durfte mich nicht jedes Krankenhaus aufnehmen.“
„Weißt du was? In meinem Haus ist ein Gästezimmer. Ich richte es dir her, dann kannst du in der Nähe deines Babys sein.“
„Ernsthaft?! Obwohl ich nicht weiß, ob ich AIDS habe?“
„Julia! Als Arzt ist mir dieses Krankheitsbild sehr gut bekannt. Ich kenne die Prognose, den Verlauf und die Gefahr der Ansteckung.“
Mit diesem Satz hat er mir mehr gegeben als ich in den letzten fünf Jahren zusammen hatte. Niemand sonst gab mir ein solches Maß an Geborgenheit.


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