„Über Heimat willst du nicht sprechen?“
„In meinen vier Wänden fühle ich mich zu Hause. Das reicht doch.“
„Du lebst in einem Heim für obdachlose Frauen.“
„Fühlte ich mich...“
„Fast poetisch“, sagte Ekaterina knapp und schlug die Beine übereinander.

Die beiden Frauen saßen in einem Café in der Mainzer Altstadt und nippten nacheinander an ihren Lattes und Espressi. Nevashi überlegte, ob sie sich die überhaupt leisten konnte. Ob sie es sich überhaupt leisten konnte, in einem Café zu sitzen in Anbetracht ihres Lebens. Ob sie es sich überhaupt erlauben konnte, in einem Café zu sitzen in Anbetracht ihres Daseins. Vielleicht sollte sie sich auf die Straße setzen, mit einem leeren to-go-Becher in der Hand und betteln. Unwirsch schüttelte sie den Kopf.

Die Tischplatte war ein Rund, durch den ein Riss ging.
„Wie durch die Welt“, sagte Nevashi und fuhr mit der Fingerkuppe ihres rechten Zeigefingers über die Kerbe. So weit wie es ihr möglich war, ohne ihre Sitzposition zu verändern. So weit wie es ihr möglich war, ohne sich anstrengen zu müssen.
„Du vermeidest“, sagte Ekaterina und sah ihr gerade in die Augen, die noch dunkler waren als sonst, vielleicht sogar größer.
„Über Heimat zu sprechen, ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann“, sagte sie und biss sich auf die Unterlippe.
„Weil du nicht einmal ein Zuhause dein Eigen nennen kannst? Das verstehe ich sogar“, sprach Ekaterina weiter und unterließ es, die Hand der Freundin zu nehmen, wie es ihr erster Impuls gewesen war.

Nevashi nahm ihr Mobiltelefon aus der Tasche des schweren, schwarzen Mantels und hielt die Kamera auf den Riss der Tischplatte, die Welt meinte.
„Hast du eines deiner Fotos schon an den Mann bringen können?“
„Noch nicht“, antwortete Nevashi so halb enttäuscht wie verlegen. Vielleicht war es eine Schnapsidee aus einem Obdachlosenheim heraus, künstlerisch arbeiten zu wollen. Aber vielleicht war in Anbetracht eines Obdachlosenheimes so ziemlich alles eine Schnapsidee.
„Viktor wartet sicher schon auf mich“, sagte Ekaterina und läutete so die Verabschiedung ein. „Ja, mach, dass du heim kommst“, sagte Nevashi. Sie war erleichtert, dass sie den Weg zurück antreten konnte. Mit ihrer Kamera in der Hand. Vielleicht sah man es den Bildern an, dass sie keinen Nachhauseweg kannte.

„Halt dich warm und aufrecht“, sagte Ekaterina, bevor sie sich umdrehte und um die Ecke bog. Nevashi schaute ihrer dunkel eingehüllten Gestalt nach. Der Februar war immer der kälteste Monat. Vielleicht lag es an der Stadt und ihrem Rosenmontagsumzug, der bei Wind und Wetter auf der Straße gefeiert werden wollte.

Nevashi zog das Mobiltelefon aus der Manteltasche und zögerte, die Kamerafunktion aufzurufen. Vielleicht war auch ein eigenes Telefon ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Vielleicht war das Leben selbst ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Flüchtende Menschen waren stets auf ihre Mobiltelefone angewiesen. In ihre Fragen hinein erreichte sie eine Mail:
„Ihr fotografischer Beitrag zur diesjährigen Ausschreibung hat uns von der Jury überzeugt“, hieß es darin.
Nevashi stand, mit halb toten Fingern, ihr Mobiltelefon in der Hand, das weiß war. Sie lächelte. Das Leben zurück.


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