Marianne legte das Besteck neben den Teller und wischte sich mit der Serviette über den Mund. In etwa einer Stunde würde der Pfleger das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr abholen und damit für eine kleine Abwechslung im ansonsten ereignislosen Tagesablauf sorgen. Sie legte die Hände in ihren Schoß und schloss kurz die Augen. Seit drei Jahren war sie nun alleine, nachdem ihr Mann Rolf von ihr gegangen war. Kinderglück war ihnen nicht vergönnt gewesen. Die Angestellten des Altenheims, das nun ihre Heimat war, gaben sich wirklich große Mühe, aber die Arbeitsbelastung war enorm und Besserung nicht in Sicht.
Stille machte sich in dem kleinen Raum breit. Irgendwann beschloss die Wanduhr, ein paar Schläge zu tun. Sie war eines der wenigen Dinge, die Marianne aus ihrem alten Leben mitgebracht hatte und schenkte ihr ein winziges Stück Vertrautheit. Aus den Augenwinkeln glaubte sie plötzlich, draußen einen vorbeihuschenden Schatten zu sehen. Sie entriegelte die Bremse des Rollstuhls und fuhr zur Balkontür. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock und gestattete den Blick auf eine Neubausiedlung mit verkehrsberuhigten Straßen und Spielplätzen. Auf dem Boden des Balkons entdeckte Marianne ein Stück Papier. Umständlich öffnete sie die Tür und rollte hinaus. Mit ihrer von Altersflecken übersäter Hand angelte sie nach dem Fundstück und betrachtete es. Dabei handelte es sich um einen einfachen Papierflieger, der den Weg bis zu ihr gefunden hatte. Welch netter Zufall, dachte sie bei sich und wollte ihn schon wieder in die Lüfte entlassen, als ihr an dem kleinen Flugobjekt etwas auffiel. Mit zitternden Händen faltete sie das Papier auseinander und entdeckte einen handgeschriebenen Text. Hallo lieber Finder. Ich bin Natalie und elf Jahre alt. Zurzeit bin ich krank und darf nicht rausgehen. Vielleicht bist du auch alleine. Ich schicke dir einen lieben Gruß und hoffe, dass wir unsere Freunde bald wieder treffen können. Mit feuchten Augen drückte Marianne den Brief an ihre Brust.

Kurze Zeit später begann es zu regnen und an der Innenseite der Scheibe hinterließen Tränen aus Kondenswasser streifige Spuren. Der Pfleger kam und wollte nachsehen, ob die alte Dame gegessen habe. Lächelnd saß sie in ihrem Rollstuhl, allerdings in einem Zustand, in dem irdische Nahrung nicht mehr nötig war.


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