Jürgen saß auf der Fensterbank und baumelte mit den Beinen. Das Panorama der Kleinstadt erstreckte sich bis zu den Hügeln des Vorgebirges. „Wie sollte er das Rätsel lösen, das ihm sein Vater aufgegeben hatte? Die Hinweise, die zur Lösung führen sollten, waren nicht gerade hilfreich“ dachte er. Von seiner Schwester, der er einen kurzen Blick zuwarf, war auch keine Hilfe zu erwarten.
Sabine war gelähmt und saß in einem Rollstuhl. Jürgen verließ die Fensterbank, um mit seiner Schwester in die Küche zu gehen. Dort wartete der Kakao, den sie beide mochten, besonders, wenn er nur noch lauwarm war.

Welchen Helden hatte der Vater im Sinn? Vor allen Dingen sollte er tapfer sein, tapferer als alle anderen. Gut! Die Zahl der Bewerber war groß und wie sollte man den Grad der Tapferkeit messen? Die Ritter der Tafelrunde vielleicht? Artus selbst oder Lancelot, Gawain, Parzifal, Tristan? Eine Sagengestalt oder eine historische Person? Karl der Große, Richard Löwenherz, Prinz Eugen? Tapfer waren sie alle, aber ohne Fehl und Tadel? Jürgen wischte den Mund der Schwester ab und sie lächelte ihn an. „Du weißt auch nicht, wer der Tapferste der Tapferen ist? Der Held, der alle anderen überragt. Gerecht soll er auch noch sein.“ Sabine schwieg weiterhin.

Jürgen schob den Rollstuhl auf die Terrasse. Was hatte der Vater noch gesagt? Die gesuchte Person sollte Empathie empfinden und Dankbarkeit. Wie passt das zu einem Helden? Ein moderner Mensch vielleicht? Albert Schweitzer, Marie Curie, Robert Koch, Alexander Fleming? Ein Wissenschaftler oder Mediziner. Auch ein Erfinder könnte zum neuen Helden werden. Ein Politiker? Er schüttelte den Kopf: nein, da fiel ihm niemand ein.

Bescheidenheit, nicht mit dem Schicksal hadern, das eigene Leben zurückstellen: wer konnte das von sich sagen? Wie Leonidas und seine 300 Spartaner, die jüdischen Verteidiger von Meggido, die christlichen Märtyrer oder Jeanne d’Arc! Jeder für sich hatte etwas Heldenhaftes, aber niemals vereinigten sie alle gewünschten Kriterien. Jürgen seufzte und schaute betrübt drein. Sabine legte ihre Hand auf seine Rechte, wie um ihn zu trösten. In diesem Augenblick kam ihm die Erleuchtung. Nur ein Mensch konnte allem gerecht werden. Wer war bescheiden, haderte nicht mit dem Schicksal, empfand Empathie und ertrug klaglos alle Schwierigkeiten? Jürgen und seine Schwester lächelten einander an und er drückte leicht ihre Hand.

Sabine hieß die Heldin des gleichnamigen Romans.


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