Mitten im Starkregen steht Anne an einer verlassenen Kreuzung. Das Licht der Scheinwerfer dringt nur wenige Meter durch den Regen. Ihre Scheiben beschlagen von der hohen Luftfeuchtigkeit und erschweren den Blick nach draußen zusätzlich. Genervt versucht sie das Wasser mit einem Tuch wegzuwischen.

„Ach verflucht, das hat doch keinen Sinn. Und wo zu Hölle bin ich hier schon wieder gelandet?“

Als sie sich zum Handschuhfach rüberbeugt, macht das Auto einen Satz und geht aus.

Völlig entnervt haut sie aufs Lenkrad und erschreckt sich, weil sie die Hupe erwischt. Vorsichtig schaut sie aus den Fenstern und sucht ab, ob sie mit dem Lärm irgendwen auf sich aufmerksam gemacht hat und als sie niemanden erkennt, redet sie wieder mit sich selbst. „Das war doch wieder klar - Anne du Tollpatsch. Wo ist denn jetzt auch noch diese Karte eigentlich hin?“

Im Handschuhfach ist sie nämlich nicht. Anne wühlt zwischen dem ganzen Krempel im Fußraum des Beifahrers, bis sie irgendwas erwischt, dass die Form einer Karte haben könnte. Genau in dem Moment ertönt ein dumpfer Knall über ihr. Gespenstisch tippelt irgendwas übers Dach, bis ein Vogel die Scheibe hinunterrutscht. Völlig schockiert schaut Anne den Vogel an. Doch nur einen Augenblick später wird dieser schon vom Scheibenwischer aufgeschreckt und fliegt davon.

War das schräg!

Es dauert einen Moment, bis sich Anne wieder fasst und auf die Karte konzentriert. Gekonnt faltet sie diese auseinander.
„Ob ich sie mir nun anschaue oder nicht. Ich habe doch eh keine Ahnung vom Kartenlesen. Ich könnte hier, hier oder hier sein. Da sind überall Kreuzungen.“

Sie starrt lange auf diese Karte in der Hoffnung, dass diese ihr doch noch ihr Geheimnis preisgibt. Plötzlich knurrt ihr Magen und unterbricht ihre Konzentration.

„Ich könnte mal wieder was zu essen vertragen. Warum muss bloß Tantchen auch so weit im Niemandsland wohnen? Ich irre hier bestimmt schon zwei Stunden durch die Gegend.

Vom Hunger getrieben, entschließt sie sich weiterzufahren. „Führen eh alle Wege in den nächsten Ort und dort frage ich nach dem Weg.“
Anne braucht einige Versuche, bis sie die richtige Kombination aus Kupplung und Schlüsselposition herausfindet, bis das Auto wieder anspringt. Zärtlich streichelt sie übers Armaturenbrett. „Wenigstens du lässt mich nicht im Stich!“

Obwohl das nächste Dorf nur wenige Kilometer weit weg ist, zieht sich die Fahrt endlos hin. Man kann ja auch kaum etwas sehen und Anne fährt, nein sie schleicht die Straßen entlang.

Ich wüsste nicht, dass ich solch einen extremen Regenguss schon mal erlebt hätte.

Während sie noch in Gedanken versunken ist, nähert sie sich einer Brücke, das sagt zumindest das Schild, denn sehen kann Anne sie noch nicht.

Plötzlich taucht vor ihr ein Auto auf. Anne tritt voll in die Eisen. Und knallt ins Auto. Nun gut, knallen ist übertrieben. Sie stubst es eher an.
Voll mit Adrenalin versucht sie einen klaren Gedanken zu fassen. Wo kommen die denn auf einmal her? Wieso hat es aufgehört zu regnen? Strahlende Sonne? Was passiert hier?

Als auch noch ein Mann auf sie zukommt, wird sie panisch und versucht rückwärts zu fahren, doch da steht ebenfalls ein Auto. Wie eine Irre dreht sie am Lenkrad hin und her. Vollgas, bremsen, Vollgas, bremsen.

Verzweifelt und ohne Rücksicht auf die anderen Autos versucht sie aus der Lücke zu kommen. Dabei demoliert sie nicht nur ihr Auto, sondern auch das davor und dahinter. Und dennoch nützt es nicht, der Mann steht bereits am Fenster, greift hindurch, zieht den Schlüssel ab und wirft ihn in den See.

Da steht das Auto nun. Leblos. Schräg zwischen den beiden Autos eingekeilt und halb auf der Straße. Sie blickt ihn fassungslos an. Ein schräges Lächeln erwidert ihren verzweifelten Blick.

Der schaut wie ein Psycho. Was stimmt mit dem Typen nicht? Doch nur einen Moment später verfliegen diese Gedanken und sie fühlt sich geborgen.

„Steig aus!“, befiehlt ihr der Fremde.

„Wo bin ich hier?“

„Ein Rastplatz für erschöpfte Reisende. Schau sie dir alle an. Sind sie nicht glücklich?“

Immer noch leicht misstrauisch steigt Anne aus dem Auto. Ihr Blick schweift über den „Rastplatz“. Je länger sie schaut, desto entspannter wird sie. Tatsächlich gefällt ihr der Rastplatz so langsam.

„Es ist schön hier.“, woraufhin der Fremde lächelt.

Mit meinem Auto sind es 36, die hier stehen. Alle scheinen glücklich zu sein und keiner scheint aufbrechen zu wollen.

„Geh zu den Anderen und amüsiere dich.“, befiehlt der Fremde
.
Unbeschwert folgt Anne der Anweisung. Sie steigt ans Ufer herab, da wo einige Menschen zusammensitzen.

„Entschuldigung, könnte ich mich dazusetzen?“, fragt sie eine Person auf einer Bank, die vor dem Teich steht. Doch diese Person antwortet nicht. Starrt nur stumm auf den Tümpel.

„Hallo du bist die neue hier, nicht wahr? Wie heißt du? Ich bin Ralf. Mach dir nichts draus, der ist nicht besonders gesellig.“, fängt die Person an zu plappern, als ob sie schon lange mit niemandem mehr geredet hat.

„Ich bin A…“

Doch bevor sie ausreden kann, wird sie unterbrochen. „Der hat noch nie geredet, seitdem ich hier bin.“

Der redet ja, als ob er schon ewig hier ist. Dabei ist das doch nur ein Rastplatz. Normalerweise rede ich nicht mit jemandem auf dem Rastplatz.

„Oh, ich hab da hinten was gehört. Wir sehen uns A, was übrigens ein ausgesprochen seltsamer Name ist.“, verabschiedet sich der redselige Genosse.

Plötzlich knurrt Annes Magen, woraufhin der Rastplatzwächter sie mit bösem Blick anschaut. Anne hat ihn so getauft, da er sich nicht vorgestellt hat.

Warum zur Hölle rennt der hier herum wie eine Glucke und bemuttert alle?

Doch schon im nächsten Augenblick stößt sie mit einer Frau zusammen, die nach hinten umfällt. „Entschuldigung, das habe ich nicht gewollt!“, streckt Anne schnell ihre Hand aus, um ihr aufzuhelfen.

So leicht wie eine Feder.

Sie klopft sich sehr sorgfältig den Staub von der Kleidung. „Pass das nächste Mal besser auf. Dass Neulinge immer so forsch sein müssen. Aber ich verzeihe dir.“, sagt sie mit gerümpfter Nase.

„Ich heiße Lady Arianne. Du kannst gerne meine Freundin sein. Ich bin dort hinten bei meinen Hunden.“

Verwirrt schaut Anne in die Richtung, in die sie zeigt. „Ah, okay. Ich schaue nachher bei dir vorbei.“

Sind die alle hier verrückt? Da sind keine Hunde.

Entmutigt setzt sich Anne auf einen Stein am Ufer, nimmt eine Handvoll Kiesel und wirft einen nach dem anderen ins Wasser.

Was wollte ich denn genau eigentlich machen? War ich nicht irgendwohin unterwegs?

Schwungvoll wirft sie die restlichen Kiesel ins Wasser und beobachtet die vielen Freundschaftsringe, die ineinander verschwimmen.

Moment, da stimmt irgendwas nicht!

Eine weitere Handvoll fliegt ins Wasser.

Nicht alle Ringe verhalten sich, wie sie sollten.

Sie nimmt noch mehr Steine in die Hand und will sie gerade hineinwerfen, als plötzlich jemand sie von der Seite anspricht. Anne springt vom Stein auf und eine Gänsehaut klettert ihren Rücken hinunter. Wie ein aufgeschrecktes Reh starrt sie den Greis an.

So alt ist er ja gar nicht. Fällt ihr auf den zweiten Blick auf.

Sein Gesicht fängt an, sich zu deformieren, zu flackern und zu verzerren. „Du bist hier nicht sicher.“, quietscht seine Stimme, wie Kreide auf einer Tafel. Doch schon im nächsten Moment ist wieder alles normal.

Als ob es nicht alles schon gruselig genug wäre!

„Anne war dein Name, nicht wahr? Lady Arianne hat mir von dir erzählt.“

Ich hab ihn doch niemanden bisher verraten. Nur der redselige Typ weiß, dass er mit A anfing. Was ist hier bloß los?

Nervös steckt sie ihre Hände in die Taschen ihres Pullovers.

Was ist das?

Anne zieht ein Foto aus der Tasche. Wer ist das?

Plötzlich kommt ihre Erinnerung wieder.

Das ist Tantchen. Ein Regenschauer überraschte mich. Ich wollte sie besuchen und habe mich verirrt.

Schmerzverzerrt sackt sie auf die Knie und hält sich den Bauch. Verflucht, wie lange habe ich nichts mehr gegessen?

Stück für Stück bröckelt die Fassade. Der Parkplatzwächter kommt langsamen Schritts auf sie zu.

Er sieht nun ganz anders aus.

„Herzlichen Glückwunsch. Du hast mich durchschaut. Das bekommen nur die Wenigsten hin.“, kratzt seine Stimme im Kopf, als ob sich jemand hineinbohren würde.

Noch ungefähr fünfzehn Meter trennen sie voneinander.

„Wie schön du im Dunkeln tappst. Du hast keinen blassen Schimmer, was hier vor sich geht.

Verdammt, woher auch. Anne denk nach! Was passiert hier gerade für eine abgefahrene Scheiße?

Nur noch 10 Meter trennen sie voneinander.

„Aber lass gut sein, das hat bisher keiner rausbekommen."

Ihr Blick schweif über die 36 Autos. Jetzt fallen ihr die Toten auf.

Die waren nicht stumm…

„Ganz genau. Die sind schon lange tot.“, führt er ihren Gedanken zu Ende.

Nur drei von ihnen scheinen noch schwach über den Boden zu kriechen. Plötzlich kommt ihr eine alte Geschichte in den Sinn.

„Du kamst genau zur rechten Zeit, um meinen Hunger zu stillen.“

Anne rappelt sich auf und wägt ihre Optionen ab. Nur noch fünf Schritte trennen sie voneinander. Ihre Hand wandert hintern Rücken und verharrt dort.

„Du bist ein Irrwisch.“, kommt sie ihm bedrohlich entgegen.

„Erwischt, aber das spielt sowieso keine Rolle mehr.“, rennt er die letzten Schritte auf sie zu.

Danach geht es ganz schnell. Die Beiden prallen zusammen. Seine Hände wandern zu ihrem Kopf, doch bevor er ihn packen kann, sacken sie wieder herab. Er gluckst vor sich hin, kommt ihrem Ohr dichter.

Hat er gerade versucht, Danke zu sagen?

Sein Körper kippt leblos zu Boden. In seiner Brust steckt ihr Messer. Offenbar hat sie gut gezielt. Herz und Lunge erwischt.

Anne blickt sich um. „Wo wollte ich eigentlich noch mal hin? Egal, ich glaube, ich bin schon da. Dieser Ort fühlt sich nach Heimat an.“

Als sie ein Auto in der Ferne hört, spürt sie die Wolken über sich, und es fühlte sich so an, als ob sie das Wasser aus ihnen zieht.
Ein heftiger Regenschauer setzt ein. So heftig, wie Anne ihn nie zuvor erlebt hat.


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