„Du willst was?“
Sonja sah ihren Mann verständnislos an. Nur mit einer Badehose bekleidet stand der vor ihr.
„Ich werde nach Hause schwimmen. In unserem Viertel hat doch fast jeder einen Swimmingpool im Garten. Ich werde hier im Pool unserer Gastgeber durch die ganzen Becken schwimmen bis zu unserem eigenen, wie durch eine Wasserstraße.“
Sonja sank zurück auf die Liege, auf der sie nach der Party eingeschlafen war. „Du meinst das wirklich ernst, oder? Und du glaubst, unsere Nachbarn sehen zu, wie du eine Reise durch Ihre Pools machst?“
„Die ganzen reichen Snobs kennen uns doch alle. Denk nur an die vielen Partys. Wir sehen uns zuhause.“
„Aber schwimm nicht zu weit raus!“, rief Sonja ihm kopfschüttelnd hinterher, nachdem er mit einem Hechtsprung eingetaucht war und mit kräftigen Stößen zum gegenüberliegenden Beckenrand kraulte. Dort stemmte er sich neben der Leiter aus dem Wasser und ging in Richtung Ausgang.

Der Himmel war klar und nicht von Wolken oder Kondensstreifen verunziert, als er das nächste Grundstück betrat und den Pool durchschwamm.
„Hallo Elmar“, überraschte ihn eine ältere Frau, als er wieder an Land war, „wir haben euch schon so lange nicht mehr gesehen.“
„Rosa, wie geht es deinem Mann, ist er beruflich noch immer so viel unterwegs?“
„Beruflich? Robert ist seit fast zwei Jahren im Ruhestand."
Stirnrunzelnd setzte Elmar seinen Weg fort.

Er überquerte eine Straße und vernahm Stimmengewirr.
Etwa 30 Partygäste drängten sich im Garten. Es gab keine Möglichkeit, die Mission unbemerkt fortzusetzten. Das Unheil näherte sich in Person der steinreichen Besitzerin Marianne.
„Nun seht mal, wer uns heute beehrt.“ Ihre Stimme klang wie verwässerter Scotch. „Wie oft habe ich euch eingeladen und nach Allem, was passiert ist, tauchst du ausgerechnet jetzt hier auf.“
„Was meinst du damit ... was passiert ist?“
„Jeder weiß doch von dir und Evelyn.“
„Evelyn?“, erwiderte Elmar ertappt.
„Glaubst du wirklich, so etwas spricht sich nicht herum. Nimm dir einen Drink und verschwinde wieder!“
Zielstrebig ging er zur Bar und kippte einen Cocktail hinunter. Nachdem er sich zum Beckenrand gedrängt hatte, tauchte er unter und genoss die wenigen gedämpften Augenblicke unter Wasser, bevor er sich angestrengt herausstemmte und eilig verschwand.

Die inzwischen aufgetauchte Wolkenbank zeigte immer weniger Bereitschaft, Sonnenstrahlen durchzulassen. Der Briefkasten des nächsten Hauses quoll über. Elmar lugte über den Zaun und entdeckte den leeren, mit Laub und Unrat verschmutzten Pool.
In der Einfahrt daneben bemerkte er einen Jungen.
„Hallo Kleiner ... sag‘ mal, sind die Feldmanns verreist?“
„Mein Name ist Thomas ... und nicht Kleiner! Ich bin schon zwölf.“
„Thomas, natürlich.“
„Die sind nicht verreist, da wohnt schon lange keiner mehr.“
„Das kann nicht sein, wir haben im letzten Jahr noch eine Weihnachtskarte von ihnen bekommen.“
„Ich weiß es ganz bestimmt. Wir mussten nämlich zweimal zur Beerdigung, kurz nacheinander.“
„Die Feldmanns sind gestorben?“ Die Haare auf Elmars Armen kämpften plötzlich um einen Stehplatz.
„Ja. Mama hat gesagt … hier auf der Erde waren sie so lange zusammen, da hat es Frau Feldmann ohne ihren Mann nicht ausgehalten. Im Himmel sind sie jetzt wieder zusammen. Waren sie deine Freunde?“
„Freunde? Nicht wirklich. Wir haben ab und zu ein bisschen geplaudert. Und sie haben uns immer um Weihnachten herum eingeladen. Leider sind wir nie dazugekommen, sie zu besuchen. Da habe ich mich wohl vertan, die Zeit vergeht manchmal einfach zu schnell.“
Das kenne ich. Wenn ich in der Schule bin, dauert es ewig bis die Stunde aus ist, aber die Ferien sind immer zu schnell vorbei. Papa sagt, das liegt an der …“ er überlegte angestrengt, „... Re-li-täts-therie.“
„Relativitätstheorie!“
„Genau!“
Die beiden begannen lauthals zu lachen. Thomas beruhigte sich als Erster wieder. „Was wolltest du denn von den beiden?“
Elmar zögerte. „Ich schwimme durch die Pools der Nachbarn in unserem Viertel nach Hause.“
„Ach so“, reagierte Thomas wie selbstverständlich, „und jetzt fehlt dir ein Stück.“
„Ich sehe, du verstehst mich.“
„Mein kleiner Bruder hat auch einen Pool“, erklärte Thomas und zeigte auf ein aufgeblasenes Planschbecken, „er hat bestimmt nichts dagegen, wenn du ihn benutzt. Ist halt dann so was wie eine Umleitung.“
„Gerne“, lächelte Elmar gerührt, „warum nicht.“
Er ging zum Bassin, deutete einen Kopfsprung an und legte sich bäuchlings in das knöcheltiefe Wasser. Mit simulierten Kraulbewegungen durchschwamm er das Becken und stieg mit gespielter Erschöpfung aus dem Wasser.
„Danke ... du hast mich gerettet.“
„Jetzt musst du dich aber beeilen, da kommt ein Gewitter.“

Durch eine zu einem Torbogen geschnittene Hecke betrat Elmar das Anwesen von Gustav, der gerade mit einer Kelle Blätter aus dem Wasser fischte.
„Hallo, nicht erschrecken, hier kommt Elmar. Ich schwimme durch die Pools unserer Nachbarn nach Hause. Wenn ich bei euch durch bin, dann habe ich nur noch ein Becken vor mir. Bin froh, wenn ich es geschafft habe.“
Der Kopfsprung misslang gründlich, mühevoll legte Elmar die kurze Strecke zurück und kletterte mit letzter Kraft neben der Leiter aus dem Wasser.
„Es hat uns sehr leid getan ... eure ganzen Probleme und alles“, rief Gustav ihm unvermittelt über den Pool hinweg zu.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Elmar rieb fröstelnd seine Arme mit den Händen.
„Ich meine ... eure Trennung ... und dass ihr euer Haus verkaufen musstet.“
Elmar sah ihn verständnislos an. „Ich kann mich nicht daran erinnern, das Haus verkauft zu haben und Sonja wartet Zuhause bestimmt schon auf mich. Ich muss los.“
Elmar fühlte deutlich, wie sich Müdigkeit zwischen seinen Schulterblättern auseinanderfaltete.

Mit langsamen Schritten ging er auf eine Zauntür zu, die sich auf der Hinterseite des nächsten Grundstücks befand. Er blickte sich verstohlen um und hob dann einen Stein hoch, unter dem ein Schlüssel versteckt war. Elmar näherte sich unbemerkt von hinten einer Frau und küsste ihren Nacken. Sie sprang auf und drehte sich um. „Du ... was soll das?“
„Ich musste dich unbedingt sehen, Evelyn, ich dachte, du freust dich.“
„Freuen, was glaubst du eigentlich? Wenn du wegen Geld kommst ... ich gebe dir keinen Cent mehr!“
„Du könntest mir etwas zu trinken geben.“
„Ich könnte ... aber ich will nicht.“ Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. „Ich bin nicht alleine ... verschwinde jetzt.“
„Ich schwimme durch unser Viertel. Nur noch dein Pool, dann bin ich wieder in meinem eigenen Reich.“
Seine Stimme war ein Destillat tiefster Erschöpfung.
Dein Reich? Werde endlich erwachsen!“
Evelyn ließ ihn stehen und ging ins Haus. Mit abgehackten Schritten ging Elmar zum Pool, wo er sich vorsichtig ins Wasser gleiten ließ. Mit einer Hand am Beckenrand hangelte er sich zur anderen Seite und benutzte die Leiter zum Ausstieg.

Die Wut des Gewitters aus den mittlerweile blutergussschwarzen Wolken stieß und schubste ihn, als er gebückt die Einfahrt zu seinem Haus betrat. Nirgends brannte Licht. Ein Fenster war eingeschlagen und gaffte ihn blicklos an. Elmars Verstand stocherte in der Leere herum wie die Zunge im Loch eines gezogenen Zahns. Ein Blitz durchzuckte die Nacht und erhellte auch das Innere des Hauses. Es war leer, die Zimmer ausgeräumt.


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