Jedes Mal, wenn eine Münze geworfen wird, jedes Mal, wenn sich ein Mensch an einer Straßenkreuzung für einen Weg entscheidet und jedes Mal, wenn ein scheinbar zufälliges Ereignis statt findet, spaltet sich die Realität auf. Es geschieht nicht nur eine aller Möglichkeiten, es geschehen alle. Gleichzeitig.
Immer, wenn ein Mensch irgendeine eine Entscheidung trifft, ist das in Wahrheit nur eine Illusion. Tritt man einen Schritt zurück - und dann noch einen, sehr großen, metaphorischen Schritt – dann könnte man all die unterschiedlichen Welten sehen, die durch jede getroffene Entscheidung entstanden sind.
Viele dieser Welten sind beinahe identisch. Hier hat eine Kuh einen Grashalm gefressen, dort nicht. Doch eine unendliche Menge an Welten bedeutet, es gibt jede nur erdenkliche Welt.
So existieren unzählige Welten, in denen nicht die Menschen das evolutionäre Rennen gewonnen haben, sondern die Eichhörnchen.
Es gibt eine Welt, in der jeder einzelne Blitz auf exakt der gleichen Stelle einschlägt. Und es gibt eine Welt, in der jeder Blitz auf der exakt gleichen Person einschlägt.
Und dann gibt es noch eine ganz besondere Welt. Eine Welt, die auf den ersten Blick aussieht wie viele andere. In Wirklichkeit ist es jedoch die Welt, in der jede nur mögliche dumme Entscheidung getroffen wurde.

In der verrücktesten aller möglichen Welten geht die Sonne auf.
Hier hat man einen Weg gefunden, andere Planeten zu kolonialisieren, und gleichzeitig sterben Menschen, weil sie nicht genügend zu essen haben. Hier betet man die Götter an, die es nicht gibt und hat diejenigen vergessen, denen man regelmäßig begegnet.
Eine Welt, in der Aufkleber produziert werden, mit der Aufschrift ‚Bekleben verboten!‘.
Eine Welt, in der der Wahnsinn so normal ist, dass es kein Wort dafür gibt.

Es ist Ende Dezember. Es ist kalt, nass, dunkel und alle Menschen sind glücklich und besinnlich. Denn so sagt es das Gesetz.
Alle erinnern sie sich fröhlich an eine Nacht vor 737665 Tagen, und an diesen ganz besonderen Mann, der in einer ganz anderen Nacht das Licht der Welt erblickte.
Und sie singen. Manche stehen in kleinen Gruppen zusammen und brummen Verse vor sich hin, die keinem wirklichen Versmaß folgen und sich auch nicht reimen. Auf der Straße tragen alle große, mit allerlei buntem Ramsch gefüllte Einkaufstaschen und ein noch größeres Lächeln mit sich herum. An dem Lächeln haben die meisten schwerer zu tragen.
Überall sind Menschen, die sich gegenseitig penetrant den Vortritt aufzwingen, Türen füreinander aufhalten und sich so laut wie möglich (damit es auch ja jeder mitbekommt) fröhliche Weihnachten wünschen. Denn heute hat man fröhlich zu sein.
Und alle geben sich auch die größte Mühe. Alle, außer einem Mann.

„Ihr könnt mich mit eurem Weihnachtsschwachsinn alle mal kreuzweise am Arsch lecken, ihr falschen Samariter ihr!“, schreit dieser Mann soeben seinem Publikum zu.
Er will gerade Luft holen und der gespannten, aber weiterhin brav lächelnden Menge wohl noch den ein oder anderen gut gemeinten Rat geben, als ein lautes PENG! PENG! PENG! durch den großen Saal schallt, wie Pistolenschüsse.
Der Mann schluckt die Worte hinunter, die ihm schon auf der Zunge gelegen hatten und wendet sich dem Mann zu, der den Radau veranstaltet hat.
Der Richter legt seinen Hammer zur Seite.
„Ich fordere Sie hiermit zum wiederholten Male dazu auf, sich zu besinnen, Herr Schnirg.“, sagt der Richter und rückt seine Perücke zurecht, die komplett aus Lametta zu bestehen scheint. Die riesigen Christbaumkugeln, mit denen er sich geschmückt hat, bringen die Perücke allerdings immer wieder aus dem Gleichgewicht.
„Sie sind angeklagt, wissentlich und in voller Absicht, keine weihnachtliche Stimmung verbreitet zu haben.“ Ein Raunen geht durch die, immer noch lächelnde Menge.
„Des Weiteren wird Ihnen zur Last gelegt, während der gesamten letzten Woche, kein einziges Ding gekauft zu haben, überhaupt keinen Zucker konsumiert zu haben und,“ hier macht der Richter eine kurze Pause, um seinem nächsten Satz einen stärkeren Effekt zu verleihen.
„Bei „Last Christmas“ von Wham nicht mitgesungen zu haben.“
In dem großen Gerichtssaal ist eine dermaßen absolute Stille eingekehrt, dass man eine Nadel auf den Boden hätte fallen hören können.
Irgendein neugieriger Mensch mit schlechter Impuls-Kontrolle lässt eine Nadel fallen. Ein leises Bing ist überall im Raum zu hören.
„Ich scheiß auf eure Besinnung!“, schreit Herr Schnirg. Wie ein Mann holen alle Anwesenden erschrocken Luft und mehrere, sehr bunt gekleidete Frauen fallen theatralisch in Ohnmacht, rappeln sich jedoch schnell wieder auf, als ihnen niemand Beachtung schenkt.

„Herr Schnirg“, sagt der Richter in dem ruhigen Tonfall eines Erziehers, der mit einem Kleinkind diskutiert und genau weiß, dass das schlagkräftigste Argument, das er benutzen könnte, eine Ohrfeige wäre. „Es ist Weihnachten. Sie wissen genau, was das bedeutet. Paragraf 38b schreibt klar vor, dass nun die Zeit ist fröhlich und freundlich zueinander zu sein. Wir gedenken dem netten Mann, der vor langer Zeit mal hier war und wir gedenken ihm, indem wir uns die beste Mühe geben so zu handeln wie er.“
„Und den Rest des Jahres gedenken wir den Hampelmännern, die ihn an ein Stück Holz genagelt haben, oder wie? Der nette Mann wollte, dass ihr euch die ganze Zeit ein Beispiel an ihm nehmt, Sie kleiner Wi – chtel“, kriegt Herr Schnirg gerade noch die Kurve.
„Und was machen wir? Behandeln uns gegenseitig 364 Tage im Jahr wie menschlichen Abfall und an dem einen Tag machen wir dann alles wieder gut? Und noch dazu hängen wir überall Schnitzereien auf, die zeigen, wie der nette Mann stirbt, um uns daran zu erinnern, dass er nicht mehr vorbeikommen kann, um uns die Hölle heiß zu machen, oder wie? Ihr habt doch alle ‘nen Schaden!“
Knapp zweihundert freundlich lächelnde Gesichter funkeln ihn mit bösen Augen an.
„Wie könne Sie es wagen?“, sagt der Richter leise und kurz entgleitet ihm sein Lächeln, dass er jedoch wieder auffangen kann, bevor die Mundwinkel unter sein Kinn fallen können.
„Sie haben die Unverfrorenheit, vor Zeugen, direkt vor einem Richter des hohen Gerichts und auch noch an Weihnachten, ein Kapitalverbrechen zu begehen.“

Die Menge ist still. Gierig warten alle auf das, was da kommt.
„Einem Menschen zu sagen, sein Tun und Handeln wäre nicht fehlerfrei und in irgendeiner Weise schädlich, ist bei Höchststrafe untersagt. Seit unsere neue Regierung die Schamlosigkeit als allgemeines Gesetz verabschiedet hat, geht es unserer Gesellschaft besser als je zuvor. Und auch wenn heute Weihnachten ist, oder gerade deshalb, werde ich es nicht zulassen, dass Sie dafür sorgen, dass sich diese unschuldigen, braven Menschen schlecht fühlen.“
Zustimmendes Murmeln erhebt sich im Saal. Einige Menschen haben bei den Worten von Herrn Schnirg zu weinen begonnen.
Der Richter rückt erneut seine Perücke zurecht, die ihm beinahe von Kopf gerutscht wäre und greift nach dem Hammer.
„Mit der mir, von irgendwelchen Leuten, verliehen Kraft meines Amtes, verurteile ich Sie zum Tode!“
„He, Moment!“, ruft Herr Schnirg aufgeschreckt, kurz bevor das hölzerne Werkzeug des Richters dessen Spruch in die Realität hämmern kann. „Es ist doch Weihnachten. Außerdem, ist das nicht ein klein wenig übertrieben, ich meine…“
„Nun gut, Sie haben recht“, erwidert der Richter nachdenklich und hebt erneut den Hammer.
Ein enttäuschtes Flüstern geht durch die grinsende Menge, begleitet von vereinzelten, lauteren Unmutsbekundungen.
„Ich verurteile Sie zu einer Nacht in der Weihnachtszelle“, sagt der Richter und zum ersten Mal erscheint sein Lächeln nicht gespielt zu sein. „Eine Nacht lang sollen Sie bei Weihnachtsliedern und Gebäck darüber nachdenken, was Sie heute gesagt haben.“
Wieder macht der hohe Beamte eine Pause und blickt in die Zuschauerränge.
„Und morgen verurteile ich Sie zum Tode“, ruft er dann triumphierend und spontan brandet Applaus auf. „Frohe Weihnachten!“

Der Hammer kracht auf den Tisch mit der Endgültigkeit einer Guillotine.
Zwei bullige Männer tauchen wie aus dem Nichts neben Herrn Schnirg auf. Beide scheinen die Kraft und Intelligenz zweier, aufeinanderprallender tektonischer Platten zu besitzen.
Wortlos greifen sie Herr Schnirg unter die Arme und heben ihn mühelos aus dem Stuhl.
Er wehrt sich nicht, sondern schüttelt nur traurig den Kopf.
„Bitte Herr, vergib ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun“, murmelt er in sich hinein, als ihn die beiden Gorillas durch die Tür schleifen.

Jemand im Saal beginnt ‚Stille Nacht‘ zu singen und kurz darauf stimmen alle Anwesenden in den langsamen Sermon ein. Die Lichter werden gedimmt und alle Anwesenden besinnen sich auf die Ruhe und ihren inneren Frieden. Denn heute ist Weihnachten.


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