Vorsichtig öffnet sie die Augen. Leises Vogelgezwitscher tönt durch das offene Fenster. Der Blick auf den Wecker sagt ihr, dass dieser in wenigen Minuten anfangen wird zu klingeln. Ein Höhenflug umgibt sie. Anstatt das schrille Tönen des Weckers wurde sie also von den süßen Vögeln und ihrer inneren Uhr geweckt. So ein Morgen ohne Lärm ist die perfekte Voraussetzung für den perfekten Tag. Die vertraute Dunkelheit ihres Zimmers und die kühle Luft der Nacht zaubern ihr ein sanftes Lächeln ins Gesicht. Heute könnte ein guter Tag werden.

Beim Anziehen entscheidet sie sich für den weißen Pulli, der sich hinter den schwarzen der letzten Wochen versteckt hielt.
Sie lobt sich selber und freut sich über ihren kleinen persönlichen Fortschritt.
Pünktlich und ohne Hetzerei kommt sie bei der Arbeit an. Mit einem Lächeln begrüßt sie ihre Kollegen, die erstaunt ihr Lächeln erwidern.
Die Aufgabenverteilung für heute gefällt ihr und sie gibt alles, um es für jeden perfekt zu machen. Ein weiterer Höhenflug durchdringt ihren Körper und sie ist fast stolz auf sich selbst. Zu schnell vergeht der Tag und der Feierabend nähert sich.

Punkt zwei auf der To-Do-Liste: Training.
Sie freut sich darauf, sich auspowern zu können und an die Grenzen ihres eigenen Körpers zu gehen. Sie erreicht Top-Zeiten und jetzt ist sie wirklich stolz auf sich selbst. Was für ein Tag!
Die positiven Gedanken übermannten die schlechten, die Selbstzweifel gingen schon beim Aufstehen und auch Angst verspürte sie kaum. Sogar mehrmals gelacht hatte sie heute.

Als sie zu Hause ankommt, ist die Wohnung komplett dunkel. Sie versucht sich selbst mit ihrer noch vorhandenen Euphorie zu beruhigen. Heute lief alles perfekt. Es kann gar nichts Schlimmes passiert sein. Doch irgendwie engt die Dunkelheit sie auf einmal ein. Die Stille wirkt plötzlich bedrohlich und die Schatten an der Wand wachsen zu riesigen Schauerfiguren heran. Ihre Knie werden wackelig. Und in ihrem Kopf bilden sich Horrorstorys, in denen alles Erdenkliche mit ihrer Schwester passiert.
In ihrem Kopf beginnt ein Kampf zwischen Verstand und dem Ding, wie sie es nannte. Der Verstand war in Unterzahl, versuchte jedoch Fakten als Abwehr zu nutzen. Keine Sorge. Es wird eine plausible Erklärung geben.
Das Ding lässt sich nicht davon beeindrucken. Seine Armee wächst mit jeder Sekunde.
Sie kann nicht mehr stehen und ihre Beine geben nach. Langsam gleitet sie an der Wand zu Boden. Der ganze Körper zittert, während das Ding ein Horrorbild nach dem anderen abfeuert:

Ihre Schwester, von Aliens entführt und auf den Mars gebracht.
Ein Kidnapper, der sie in der Schule abgefangen haben muss und sie nun in einer dreckigen, kalten Höhle gefesselt als Geisel nimmt. Ein verrückter Autofahrer, der sie erfasste als sie über die grüne Ampel ging…

Das Feuer lässt nicht nach.
Partei Verstand wird immer weiter zurück gedrängt. Die letzte Abwehr ist der Griff zum Telefon.
Mit zittrigen Fingern wählt sie die Nummer. Nach dem zweiten Tuten geht ihre Schwester dran.
Alles ist gut. Sie ist bei einer Freundin. Bleibt heute etwas länger da.
Gut. Kein Grund für sie, sich Sorgen zu machen.
Team Verstand hat mit seinem letzten Angriff den Krieg gewonnen. Jetzt ist es stark geschwächt und wird die nächsten Tage wieder brauchen, um sich auszukurieren.

Wie schnell so ein Höhenflug verloren geht…
Morgen wird wieder der schwarze Pulli dran sein. Das ist ihr klar.


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