Gemächlich und mit Sorgfalt streift Margarethe den Anzug glatt. „Oh Walter, wie siehst du aus? So kannst du nicht aus dem Haus gehen.“
„Margarete, ich bin zu spät dran.“
Sie zeigt auf ihre Wange und dreht sie ihm zu. „Für ein Küsschen muss noch Zeit sein.“
Aufreizend stemmt sie ihr Bein in den Türrahmen, sodass ihr Rock etwas hochrutsch. Röte schießt Walter ins Gesicht und während sie winkt, ruft sie ihm hinterher: "Komm mir bloß nicht zu spät zum Abendbrot, sonst wird das wieder Essen kalt."
Nun muss ich mich aber wirklich beeilen. Noch nie bin ich zu spät zur Arbeit erschienen. Wie konnte ich heute bloß verschlafen? Und wo kommt dieses ungute Gefühl her? Die letzte Visite verlief doch wunderbar. Das kann es nicht sein. Und niemand wird merken, dass ich zu spät komme.
Viele weitere Gedanken streifen durch Walters Kopf, während er in seinem atomgetriebenen Auto zur Arbeit fährt. Sein ganzer Stolz. Majestätisch gleitet er durch die Straßen.
„Ich liebe diesen fröhlichen, beschwingten Song!“ Und nächste Woche kommt die Bluesband in unsere Stadt. Hoffentlich bekomme ich nach der Arbeit noch Karten. Dann kann ich Margarete überraschen. Sie mag die doch auch so gerne.
Wie jeden Morgen parkt Walter sein Auto perfekt in die geschaffene Fläche im Wald ein.
Wonach riecht es hier? Irgendwas stimmt hier nicht? Es dauert einen Moment, bis Walter sich sortiert hat.
Reifenspuren! Das ist Sperrgebiet. Niemand darf sich hier aufhalten. Instinktiv öffnet er sein Halfter und greift nach der Pistole. Vorsichtig nähert sich Walter dem Bunker.
„Sie können die Hand von der Waffe nehmen, Zivilist Glock."
Unsicher was er machen soll, tendiert er lieber dazu der Aufforderung Folge zu leisten. „Ookay.“
Eine Gestalt in Uniform kommt auf Walter zu. „Herr Glock, schön sie wiederzusehen!“
„Ha-Habe ich irgendwas falsch gemacht?“
„Nein, im Gegenteil. Ihr Vaterland dankt Ihnen für Ihre großartigen Dienste.“
Sichtbar fällt Walter eine große Last von den Schultern. „Warum sind sie dann hier Oberst Reinhart? Die letzte Visite ist erst einige Wochen her und war tadellos.“
„Ihr Vaterland benötigt ihre Dienste nicht mehr. Wir steuern auf Friedenszeiten zu, so sagte man mir zumindest.“
„Aber Herr Oberst, ich mache seit 25 Jahren nichts anderes! Was wird aus mir?“
„Das kann ich ihnen nicht beantworten. Wenden Sie sich bitte heute noch an ihren Wehrverwalter. Und bevor Sie mir weiter Fragen stellen, die ich Ihnen nicht beantworten kann - wir müssen noch die Anlage außer Betrieb nehmen.“
Was passiert gerade? Das hier ist mein Leben!
Sein Blick richtet sich eindeutig auf die im Hügel eingelassene Tür. „Herr Glock, bitte hören Sie auf zu träumen. Ich muss heute noch 5 weitere Anlagen außer Betrieb nehmen. Wenn Sie die Güte hätten?“
Wortlos schreitet Walter zur Tür und tippt den Sicherheitscode ein.
Ich halte dich das letzte Mal in der Hand. Sacht führt er den Schlüssel in die Tür ein. Die schweren Riegel bewegen sich geschmeidig im Inneren. Mit viel Kraft drückt er die Tür auf.
Walter atmet tief ein. „Wissen Sie, ich liebe diesen Duft.“
„Riecht für mich nach muffigem Keller. Tut mir leid, ich teile ihre Begeisterung dafür nicht.“
Walter legt einen schweren Schalter um. Nach und nach gehen die Lampen im Gang an. Jeder Schritt vom Oberst verursacht ein lautes Klacken, welches die Wand mehrmals zurückwirft.
Ich habe immer versucht leise hindurchzuschreiten. Aber dieses Klacken und der Hall sind schön. Schade, dass es heute das vorletzte Mal ist.
„Dieser Gang ist ungewöhnlich lang Herr Glock.“
„Man hat ihn zur Feindabwehr extra so gestaltet. Er flacht immer weiter ab und lässt sich in mehreren Abschnitten sprengen.“
Der Oberst nickt und bestätigt, dass die Information angekommen ist. Schweigend schreiten die Beiden den Gang entlang. Es dauert ungefähr zwei Minuten, bis sie das Ende erreichen.
Eine Eindeutige Geste fordert Walter auf die Tür zu öffnen. „Bitte.“
Walters Herz klopft wie verrückt. Das letzte Mal also? Quietschend gleitet der Schlüssel ins Loch und nach einigen Umdrehungen offenbart sich das Herzstück der Anlage.
Beide werden von einer verzerrten Stimme empfangen. „Willkommen im Kontrollraum Walter.“
„Ist das Ihre?“
„Ja, ich habe den Computer programmiert.“
„Nun gut.“ Skeptisch blickt der Oberst Walter an und holt einen Briefumschlag aus seiner Tasche. Rabiat bricht er das Siegel und faltet ein wichtiges Dokument auseinander.
Murmelnd liest der Oberst die Instruktionen zum Shutdown der Anlage, während Walter Minute für Minute mehr Schweißperlen auf der Stirn auftauchen. Er schließt die Augen, genießt jeden Augenblick.
Plötzlich reißt ihn die schrille Stimme vom Oberst erneut aus dem Tagtraum. „Herr Glock, Sie träumen schon wieder. Die Instruktionen sind eindeutig. Wir werden diese Anlage gemeinsam abschalten müssen.“
„Herr Oberst, darf ich Musik dazu einschalten?“
„Wenns sein muss, aber nicht so laut.“
„Radioactive Boy, bitte spiel meinen Lieblingssong.“ Ein Computer fängt an sein Magnetband hin und her zu spulen, bis er die richtige Stelle gefunden hat.
Erneut schaut ihn der Oberst skeptisch an, als der Song anfängt zu spielen.
„Wirklich Herr Glock?“ Dass es ausgerechnet dieser eine Song ist, der in den Charts gelandet ist, den die Leute nicht mehr hören können. Na klar Herr Oberst, es ist mein Lieblingslied. Der Song erzählt vom Weltuntergang durch Atomwaffen. Irgendwie passend oder?
„Ab jetzt muss es schnell und strukturiert zugehen. Wie sie sicherlich wissen, bleiben uns nach dem Beginn drei Minuten, um die Abschaltung erfolgreich durchzuführen.“
Ich weiß doch. Diese Instruktionen habe ich in der Ausbildung verinnerlicht. Für Walter geschieht alles wie in Trance. Die Befehle fliegen ihm Schlag auf Schlag um die Ohren. Doch er nimmt sie nur noch unterbewusst wahr.
„Schtritt1“ Schritt1
Abschalten der Selbstverteidigungseinrichtungen.
Dazu sind zwei Personen notwendig. Eine bestätigt die Eingaben am Terminal. Die Zweite führt eine Abschaltsequenz im Elektroraum aus. Beide müssen im Zeitfenster von 30 Sekunden alle Eingaben durchführen.
„Schtritt2“ Schritt2
Herunterfahren der Bereitschaftssysteme für die Überwachung der taktischen Sprengköpfe.
Auch hier benötigt man zwei Personen. Der Oberst übergibt ihn einen kleinen Umschlag. Person eins gibt den ersten Teil des Codes ein und der am zweiten Terminal den Rest der Sequenz. Passiert hier ein Fehler, hat man 30 Sekunden die Notfallsequenz einzugeben.
„Schtritt3“ Schritt3
Deaktivieren der taktischen Sprengköpfe.
Wieder zwei Personen. An zwei anderen Konsolen. Dem Feind sollte es schließlich so schwer wie möglich gemacht werden. Ewig tippen sie mit komplizierten Handgriffen gemeinsam in eine Konsole.
„Taktische Köpfe werden deaktiviert. Anlage wird in Ruhemodus versetzt.“
„Schtritt4“ Schritt4
Ab hier wird nur noch eine Person benötigt.
„Herr Glock, nun sind sie an der Reihe. Nehmen Sie Abschied, aber denken sie an die drei Minuten.“
Nickend bestätigt Walter, dass er verstanden hat.
Da sind wir. Nach 25 Jahren endet unsere Freundschaft einfach so. Von einer Minute auf die andere. Walter schiebt den Schlüssel in seine Konsole, vor der er Jahrzehnte verbracht hat.
Auf dem Bildschirm erschein ein Countdown: 31,30,29,28,27,26.
Unaufhaltsam zählt dieses Biest herunter. Der Bildschirm verschwimmt vor Walter.
Es muss sein. Erbost hämmert er eine lange Zahlenkombination ins Terminal, während der Countdown weiterzählt. 9,8,7,6,5,4.
Machs gut mein Radioactive Boy!
Ein Testbild mit der Aufschrift „Please stand by“ erscheint auf dem Bildschirm. Alle Computer fangen an ihre Magnetbänder zu spulen, als ob sie spüren, dass Unheil bevorsteht. Die Kontrolllampen aller Systeme blinken und verlöschen nach und nach, bis auch die Magnetbänder verstummen.
Da die Systeme nicht sofort vollständig ihren Strom verlieren, verstummt die Musik langsam und wird immer verzerrter wiedergegeben, bis das Band stehen bleibt. Danach erlischt das letzte Licht – Das was der Bildschirm gespendet hat. Für einen Moment ist es stockfinster, bis die Notbeleuchtung anspringt.
„Ich gratuliere Herr Glock, die Anlage ist komplett heruntergefahren. Wir begeben uns jetzt zum Ausgang!“
Beide schreiten erneut durch den Gang. Doch diesmal versucht Walter die Schuhe genauso laut klacken zu lassen, wie der Oberst.