(nach einem wahren Ereignis)


„Muss man den Kindern in dem Alter schon eine solche Prüfung zumuten? Wolfgang ist gerade mal fünfeinhalb.“
Marc schlug die Zeitung zu und stellte sich neben Anja, die vor ihrem Laptop saß. „Du meinst den Einschulungstest nächste Woche?“
„Ja, ich wollte wissen, was die da von ihm verlangen.“
„Lass mich mal sehen.“ Er beugte sich zum Computer und las den angezeigten Text.
„»Es geht darum, die Schulfähigkeit der Kinder festzustellen. Da jedes Bundesland ein eigenes Schulgesetz hat, ist Zeitpunkt, Ort und Art des Tests Ländersache.« In den anderen Ländern ist es also nicht so wie bei uns in Bayern.“
„Was ist, wenn er nicht besteht?“
Beruhigend legte Marc seiner Frau eine Hand auf die Schulter.
„Jetzt ist es genug, du machst dich ja ganz verrückt.“
Er drehte Anja zu sich und sah ihr in die Augen.
„Im Hof wollen sogar die älteren Jungs immer mit ihm Fußball spielen, weil er den besten Schuss hat. Körperlich fehlt ihm also bestimmt nichts. Auch sonst macht er nicht den Eindruck, zurückgeblieben zu sein. Er kann seinen Namen schreiben, bis 100 zählen ... trotzdem kann so ein Gesundheitscheck nicht schaden, das macht schon alles Sinn ... also keine Panik. Wolfgang freut sich sehr auf die Schule.“

***

Der nächste Morgen:
„Mama, bist Du wach?“
Wolfgang stand an Anjas Bett. Sein Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von dem seiner Mutter entfernt. Die schreckte hoch.
„Was ist los ... ist etwas passiert?“
„Mama!“, begann Wolfgang vorwurfsvoll, „ ich muss doch heute in die Schule!“
Sie setzte sich auf die Bettkante, sah an ihrem Sohn herunter und hob die Augenbrauen.
„Du bist ja angezogen.“
„Ja klar, und das Frühstück ist auch schon fertig.“
Anja stand der Mund offen.
Wolfgang nahm ihre Hand und versuchte, seine Mutter hochzuziehen. „Hör auf rumzugammeln und steh‘ auf!“
Er lief aus dem Zimmer.
„Na hör mal!“ Anja schüttelte den Kopf, streckte sich und begann zu grinsen.

„Markus und Julian waren letzte Woche dran“, erzählte Wolfgang, während er seine Cornflakes mampfte, „die haben gesagt, es ist gar nicht schwer.“
„Was mussten die beiden denn machen?“
„Ooch, alles Mögliche ... malen ... und ... zeichnen ... und so.“
„Sonst nichts?“
„Und rechnen ... aber nur kurz.“
„Rechnen ... bist Du sicher?“
„Na klar, ich kann auch schon bis 100 ... 1000 zählen!“
„Natürlich!“ Anja schaffte es gerade so, sich das Lachen zu verkneifen. „Jetzt kann ja nichts mehr schiefgehen!“

***

Am Abend:
Marc kam ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen. „Also, ich dachte, Wolfgang schläft gar nicht mehr ein.“
„Das kleine Plappermaul war kaum zu bremsen und hat mir fast eine Stunde lang erzählt, was er heute in der Schule gemacht hat. Muss alles sehr beeindruckend gewesen sein. Ganz verstanden habe ich ihn nicht. Wollte auch nicht nachfragen, sonst hätte es noch länger gedauert. Kannst du mich aufklären?“
„Zuerst haben sie ihn untersucht. Das war nichts Neues für ihn, er kennt das vom Kinderarzt. Und ich war auch dabei, das hat ihn beruhigt. Dann kamen zwei Lehrerinnen und haben einige Tests gemacht. Zuerst sollte er Dreiecke, Kreise und so etwas erkennen und sagen, wie viele er davon sieht. Er wurde nach Farben gefragt, sollte Symbole wie Sterne oder Kreuze abmalen und Strichmännchen zeichnen.“
Anja versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, indem sie sich einen Handrücken an den Mund hielt - vergeblich.
„Was ist so lustig ... erzähl weiter.“
Anja fasste sich wieder.
„Also, als letzte Übung waren zehn Gegenstände auf einem Tisch verteilt. Wolfgang sollte sie sich genau ansehen, bevor sie zugedeckt wurden.“
„Ein Memory-Spiel sozusagen?“
„Genau. Er sollte aus der Erinnerung so viele Dinge benennen, wie er konnte.“
„Und?“
„Erst hat er sechs Sachen aufgezählt. Einen Ball, einen Teller, einen Apfel, ein Buch, einen Schuh und eine Brille. Das war schon mal gar nicht schlecht. Ich dachte, das war‘s, aber er hat fieberhaft überlegt und man hat gemerkt, dass ihm noch ein Wort auf der Zunge liegt. Und plötzlich ist es ihm eingefallen. Er war ganz stolz und hat freudestrahlend gerufen »Und ein Glupperl!«. Du hättest das Gesicht der einen Lehrerin sehen sollen - köstlich.“
Marc hob fragend die Arme. „Was ist daran so komisch?“
„Na, von ihr kam nur »Wie bitte ... was hat der Junge gesagt?«. Dann hat sie ihre Kollegin angeschaut.“
„Ach so, sie ist nicht ...“
„Nein, sie kommt wohl aus Berlin und kennt bairische Wörter nicht.“
„Und dann?“
„Ihre Kollegin hat sie aufgeklärt, dass man in Bayern zu einer Wäscheklammer eben Glupperl sagt.“
„Damit hat sie immerhin das erste bairische Wort gelernt.“
„Eine Win-win-Situation sozusagen.“
„Und Wolfgang wird im September eingeschult?“
„Ja, er kann es kaum abwarten. Und wir können wirklich stolz auf ihn sein.“


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