Dunkelheit ist in den Zimmern des Gebäudes D4 keine Besonderheit.
Im Winter erst recht nicht.
Vorhin hat die Kirche halb fünf geschlagen. Ich habe aus dem Fenster geschaut und dabei zugesehen, wie das Tageslicht langsam verschwand. Das war vor vier Stunden. Ich liege immer noch hier.
Jemand ist ins Zimmer gekommen und hat behutsam die Brandschutztür geschlossen. Luzia.
Niemand sonst macht so wenig Geräusche auf dem Linoleumboden, den die Putzkräfte am Morgen immer summend mit Desinfektionsmittel überfluten. Sie legte sich auf ihr Bett und ich wartete darauf, dass sie den Schalter ihrer Nachttischlampe anknipste. Normalerweise ließen wir sie bis tief in die Nacht eingeschaltet, redeten bis uns die Augen zufielen. Heute kam das allzu vertraute Geräusch nicht. Das Zimmer blieb dunkel.
„Was wünschst du dir zu Weihnachten?“ Ihre Stimme klang sanft und ruhig. Wenn sie mir abends etwas vorlas, musste ich mich oft bemühen, nicht einzuschlafen. Ich drehte mich zu ihr um. „Du musst auch nicht antworten.“ „Nein.“ Meine Stimme klang heiser. „Ich kann dir nur nicht sagen, was ich mir wünsche. Ich kann nur sagen, was ich mir nicht wünsche.“ Luzia lachte. „Das ist auch schon mal ein Anfang.“ Ich starrte auf das dunkle flache Etwas, das zwischen unseren beiden Betten an der Wand montiert war. „Ich will auf jeden Fall nicht dieses ganze Zeug, was sie im Fernsehen zeigen. In den Weihnachtsfilmen. Dass ich nur mit drei Haselnüssen um mich schmeißen muss. Und dann hab ich auf einmal ein fancy Jagdoutfit und eine Ballnacht und dann auf einmal einen Märchenprinzen, den ich heiraten will.“ „Hey, jetzt mach mir bitte nicht meinen Lieblingsweihnachtsfilm kaputt.“ „Sorry, du hast gefragt.“ „Na ja, genau genommen hab ich gefragt, was du dir wünscht. Nicht, was du dir nicht wünschst.“ Ein Blatt des welken Blumenstraußes, der auf meinem Nachttisch stand, fiel zu Boden und durchschnitt die Stille. Ich schaute aus dem Fenster und schloss die Augen. Da war es: ein Bild. Ein Fetzen einer Erinnerung. „Alaska“ entfuhr es mir und ich begann Luzia von dem Spiel zu erzählen, das meine Eltern und ich damals diesen Namen gegeben hatten. „Okay, okay, das klingt jetzt etwas verrückt. Wenn es draußen geschneit hat, sind wir immer auf den Balkon von dem Schlafzimmer meiner Eltern gelaufen. Wir hatten nur unsere dünnen Pyjamas an und nichts an den Füßen. Dann haben wir gewartet bis uns kalt wurde und sind dann schreiend nach drinnen gelaufen, um uns im Bett zusammen zu kuscheln“ sagte ich und merkte, wie sich beim Erzählen ein Lächeln auf meine Lippen geschlichen hatte. „Das klingt schön.“ Ich nickte. Als ich dieses Mal aus dem Fenster sah, fielen mir die kahlen Äste des Baumes auf, der vor unserem Fenster stand. „Ich glaube das ist es, was ich mir wünsche: Schnee“ krächzte ich. Es hatte sich eine Stille im Zimmer ausgebreitet. Wie die Dunkelheit nach Sonnenuntergang. Wieder hatte ich Luzias Schritte nicht gehört. Plötzlich hockte sie vor meinem Bett und legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Hey“, sagte sie sanft. Ich spürte, dass sie mich ansah, aber ich floh vor ihrem Blick und starrte aus dem Fenster. Eine der Papierschneeflocken zitterte im Wind. „Wer ist eigentlich auf die blöde Idee gekommen, die Dinger draußen anzubringen?“, fragte ich und zeigte auf die Papierfigur an der Fensterscheibe. „Ich“, sagte Luzia und lächelte. „Oh, sorry. Aber irgendwann fliegen die doch ab und landen in irgendeinem Gully oder verenden in einer Pfütze auf der Straße.“ „Aber dann sind sie wenigstens ein bisschen wie echte Schneeflocken.“ Ich sah, wie Luzia lächelte und auf die Schneeflocken starrte. Doch ihr Lächeln wurde von einem Gedanken weggespült. „Was, wenn wir das auch machen?“, fragte sie. „Was?“ Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Na Alaska spielen.“ Meine Augenbrauen müssen in die Höhe geschossen sein, denn Luzia stritt ihren Vorschlag direkt wieder ab. „Nein Luzia“ Ich nahm ihre Hand und sah, wie sie mit ihren Augen auf meinen Handrücken starrte, in der noch die Nadel meiner Infusion steckte. Ihr Daumen fuhr über meine Knochen und ich spürte, wie sich meine hellen blonden Härchen aufstellten.
„Es ist nur, wenn die Schwestern das mitkriegen.“ Als ich das sagte, ließ sie meine Hand wieder los. Ich schaute auf meinen Nachttisch, auf dem noch eine Karte mit Gute-Besserungswünschen stand. „Ganz zu schweigen von meiner Mutter.“ Luzia stand wieder auf und lief zu ihrem Bett zurück. „Wenn du nicht willst, Emilia, dann sag es einfach.“ Diesmal war ich es, die aufgestanden und zu ihr ans Bett gekommen war. Als ich meine Hand auf ihre Schulter legte, lief kurz ein Schauer durch sie. „Doch“, sagte ich. Meine Hand wanderte langsam ihre Schulter und ihre Arme entlang, bis sich unsere Finger ineinander schlossen. Ich zog sie sanft zur Schiebetür, die auf den Balkon unseres Zimmers führte. Die Steinfliesen des Balkons waren so kalt, dass wir nicht stillstehen konnten. Luzia lachte. „Das sind niemals sieben Grad. Und das ist auch keine halbe Kälte. Das ist einfach nur kalt.“ Ich sah, wie ihr Atem kleine Schleierwolken bildete. Sie machte einen Schritt auf das Fenster zu. Mit ihren Fingernägeln knibbelte sie den Tesafilm einer Schneeflocke ab, die lose an der Scheibe hing. Als sie sie mir in die Hand legte, sah ich, dass auf ihr sogar etwas Glitzer klebte. „Die hab ich gemacht“, sagte sie. „Wenn es schon keinen echten Schnee gibt“ fügte sie noch hastig hinzu. „Danke“, sagte ich und strich sanft über ihre Schulter. Sie zuckte wieder zusammen. „Ich glaube, es ist besser, wenn wir reingehen. Sonst holst du dir noch den Kältetod“ sagte sie. Diesmal griff sie nach meiner Hand und zog mich in das warme Innere unseres Zimmers. Doch innen angekommen, ließ sie mich wieder los und schritt auf ihr Bett zu. „Was machst du?“ Selbst im Dunkeln konnte ich ihren fragenden Gesichtsausdruck erkennen. „Jetzt kommt doch erst das Beste an Alaska.“ Ich streckte meinen Arm nach ihr aus und sah, wie sie lächelte. Die Krankenhausbetten waren schmal. Als ich mich an ihren Rücken schmiegte, wunderte ich mich, wie ihr Körper immer noch so warm sein konnte. „Ich hab dich gar nicht zurückgefragt“, sagte ich. „Was zurückgefragt?“ „Na, was du dir zu Weihnachten wünschst.“ „Ah ja. Stimmt.“ „Und?“ Langsam drehte sie sich zu mir um und schaute mir in die Augen. „Ich glaube, du kennst die Antwort, Emilia.“ Mein Herz schlug auf einmal ganz schnell. Mir wurde heiß. Mir wurde kalt. Am liebsten wollte ich wegrennen. Zeitgleich wusste ich, dass es keinen Ort gab, an dem ich lieber sein wollte.
Zögerlich strich ich mit meinen Lippen über ihre. Wie um zu fragen, ob das überhaupt ihr Wunsch sei. Doch ihre Antwort war sehr eindeutig.
Wir küssten uns fast die halbe Nacht lang. Zwischendurch schauten wir uns in die Augen oder mussten lachten. Ich strich über ihre Stirn und sie schmiegte sich an meine Schulter. Am nächsten Morgen lag sie immer noch in meinem Arm. Als ich auf den Nachttisch schaute, sah ich, dass jemand die welken Blumen entsorgt hatte. Und sogar die Karte mit den Gute-Besserungswünschen stand nicht mehr dort. Nur Luzias Papierschneeflocke hatte sich an den metallenen Hals der Nachttischlampe gelehnt. Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen auf den Glitzer der Schneeflocke und ließen dessen Reflektionen in Regenbogenfarben an der Wand tanzen.


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