Weiß man's?

Sie beobachtete den Einzug des Frühlings, der auch dieses Jahr zwingend kommen würde, ziemlich genau. Nicht, dass sie ihrem Mann wirklich glaubte, dass, noch vor der ernsthaften Schneeschmelze, der Krieg beginnen würde.

Dennoch ...

Ein eher kühler Tag. Für die Jahreszeit. Sie drehte die Heizung weiter hoch.
In der ganzen Wohnung begann sich langsam Behaglichkeit auszubreiten. Er lungerte mit seiner neuen Geo bloß noch auf dem Sofa herum und selbst die Katze, die bis eben fleißig dabei war zu fressen, hatte sich hingefläzt aufs Fensterbrett.

Vielleicht ...

Sie entschied, sich ihren einfach nicht verschwindenden Altlasten zu widmen.

Da war die Familie. Ihres Mannes. "Da müsste ich dich sehr verachten", hatte die Schwiegermutter gesagt, als sie verkündete, die KIeine sehr wohl in den Kindergarten zu geben. Statt selbst zu betreuen. Auch ohne, dass sie arbeite.

Da war der Schwiegervater, der nie für sie eintrat. Wenn es mal hoch herging. Wie in diesem Fall. Beim Kaffeetisch. Seinem Sohn aber nach jedem Mal bestätigte, was er sich doch für eine "bewundernswerte Frau" geangelt hatte.

Das stimmte nicht. Es war lediglich wahr. Aber irgendwie noch nicht stimmig.

Da war ihre eigene Familie. Die Mutter ein Drachen, der Vater Pantoffelheld. Sie zuständig fürs Aggressieren und er dafür, sich bei solcher Gelegenheit aus dem Staub zu machen, sich aus dem Haus und ins Wirtshaus zu schleichen.

Ja, es wurde tatsächlich wärmer. Die Richtung konnte schon mal stimmen.

Da war die Familie, die sie zu dritt waren. Sie, die nie Ruhe gab, immer etwas fand. Das man für die Zukunft verbessern konnte. Das man aktuell kritisch zu sehen hatte. Und er. Mit beiden Lauschern routiniert auf Durchzug geschaltet.

Ja, wirklich schon viel wärmer, aber ebenso klar, das war es immer noch nicht.

Niemand hatte sie gezwungen, sich so einen Mann zu nehmen. Und niemand zwang sie, sich selbst auch noch zu seinem glatten Gegenteil zuzuspitzen. Wie musste ihre Tochter überhaupt das Ganze erleben?

Sie hatte einen Mann geheiratet, wie sie Männer eben kannte. Unengagiert. Unbeteiligt. Konflikte beständig unter den Teppich türmend. Abwiegelnd, wo es nur ging. Dieses stur hochgradig Passiv-Aggressive auf der ganzen Linie.

Da wurde es ihr plötzlich richtig warm. Das erste Mal. Etwas stimmte total.

Wenn sie das kannte, dies taube Verdrängen, dies so vollendet begnadete Verdrängenkönnen, dann kannte sie das von niemand anderem als von sich selbst. Sie wusste doch, wie das ging! Hatte sie gerade perfekt beschrieben.

Ihr wurde richtig heiß. Dieses Sich-aus-allem-nur-Heraushalten - war ihres.

Und sie schaute auf Mann und Kater und Tochter und auch auf sich selbst. Sie hatte sich selbst ignoriert. Sich blind herausgehalten, es sehen zu wollen, dass sie es war, die sich unverzeihlicherweise heraushielt. Die ganze Zeit.

Es zu merken, dass sie selbst es sich nicht gönnte, sich weniger zu ereifern, weniger zu beteiligen, gelassener und entspannter durch ihren Tag zu schlendern. Es sich häufiger so richtig gut gehen zu lassen. Sie wusste doch, wie es ging …

Sie hatte ja diese Ignoranz tagtäglich massiv umgesetzt. Nur eben auf sich bezogen. Irrtümlich. Und noch auf ihren Mann übertragen. Zusätzlich. Aus Versehen. An die weiteren Übertragungskreise mochte sie gar nicht denken.

Und sie ließ ihr Können ungehindert strömen. Er schwieg? Es störte sie nicht. Sie erfreute sich ihres lauschigen Abgegrenztseins, ihrer gesunden Immunität gegenüber diesem ehemals Unverbesserlichen. Er konnte ihr nicht mehr.

Nahm wahr, wie aller Stress sich auf einmal sämtliche Zähne an ihr ausbiss. Aber du musst doch ...! Sie hatte keinerlei Aktien mehr in diesem Geschäft. Aber du kannst doch nicht ...! Sie war raus, nicht mehr einzuholen. Durch egal was.

Freilich willentlich.

Er mochte gar nicht anders können - sie schon. Sie konnte jetzt auf die umschalten, die sich nicht wider Willen ärgern lassen musste von etwas, dem sie ihre Aufmerksamkeit sowieso gar nicht weiter widmen wollte.

Spürte ihre neue wohlig dicke Haut. Und, dass sie Herrin geworden war über dieselbe. Keiner kroch ihr mehr ungewollt darunter. Es war an dem, bessere Zeiten anbrechen zu lassen. Aus eigener Kraft.

Schon

ihrer Tochter wegen.


Konversation wird geladen