Je näher der entscheidende Tag rückte, desto nervöser wurde Amaru. Hatte er genug trainiert, sich ausreichend vorbereitet? Heute würde sich seine Zukunft entscheiden.
Mit geweiteten Pupillen konzentrierte er sich auf einen Krug, der in einer Felsnische stand. Das Gefäß zitterte leicht, erhob sich, und schwebte zu Amaru hinüber, der es mit einem zufriedenen Lächeln packte und einen großen Schluck daraus nahm.
Halb von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen, halb selbst die Einsamkeit suchend hatte er hier vor vielen Wintern sein Lager aufgeschlagen.
Bereits als Kind wurde er sich seiner außergewöhnlichen Gabe bewusst. Bei einem Geschicklichkeitsspiel mit handgroßen Steinen wurde er regelmäßig besiegt. Er war schmächtig und ein beliebtes Ziel für Hänseleien. Die Wut auf seine eigenen Unzulänglichkeiten nagte an ihm. Bis er eines Tages bemerkte, wie er seine Gefühle auf ungewöhnliche Art einsetzten konnte. Als er bei dem Spiel wieder einmal im Hintertreffen war, wünschte er sich so sehr, die von ihm geworfenen Steine würden an der gewünschten Stelle landen, dass es tatsächlich geschah. Jedes Mal, wenn er einen Wurf machte, fixierte er das betreffende Objekt und gab ihm mit seinen Gedanken kleine Richtungsänderungen mit. Er hatte keine Ahnung, wie so etwas möglich war, aber es funktionierte. Nach kurzer Zeit war Amaru unbesiegbar und wurde nicht mehr verspottet. Jedoch wollte sich ab diesem Zeitpunkt niemand mehr in seiner Nähe aufhalten.
Er galt als Sonderling, dessen Gegenwart man besser meiden sollte, denn nicht wenige aus der Gemeinschaft hatten den Verdacht, er stünde mit bösen Mächten in Verbindung.
Amaru experimentierte unermüdlich und perfektionierte seine Fähigkeiten. Als er alt genug war, meldete er selbstbewusst den Führungsanspruch über das gesamte Dorf an. Er sei von den Göttern geschickt, daher unverwundbar und werde dies dem ganzen Volk beweisen.
Heute war der Tag gekommen, an dem er alle überzeugen würde. Auch die Skeptiker, die vorhatten, ihn zu töten.
Amaru schleuderte den Krug hinter sich, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und verließ die Höhle.
Die Menge hatte sich unter dem Felsplateau versammelt, das den Vorplatz von Amarus Höhle bildete, und begleitete das Erscheinen des angekündigten neuen Oberhauptes mit einem Raunen, in das sich deutlich vernehmbare Buhrufe mischten.
Amaru musterte von oben herab die zahlreichen Gesichter, nickte den vier bereitstehenden Bogenschützen zu und breitete die Arme aus.
Die tödlichen Pfeile wurden eingelegt, gespannt und gleichzeitig abgeschossen. Wie an einer Schnur gezogen rasten sie auf ihr Ziel zu – Amarus Brust. Der Jubel, den die Schützen anstimmen wollten, blieb ihnen im Hals stecken, als die Pfeile wie durch Hexerei langsamer wurden und schließlich wenige fingerbreit vor Amaru in der Luft stehen blieben. Triumphierend pflückte er einen Pfeil nach dem anderen, wie reife Beeren von einem Strauch, nahm sie in beiden Hände, brach sie über dem Knie entzwei und schleuderte sie vom Felsen herab vor die fassungslosen Zuschauer.
In entrückter Pose, die Arme ausgebreitet, den Kopf zurückgeworfen, blickte er in den Himmel. Dann erhob sich sein Körper mit majestätischer Geste vom Boden, um über dem steinigen Untergrund zu schweben. Wenige Augenblicke später fielen die Dorfbewohner auf die Knie und senkten demütig ihre Köpfe. Amaru hatte den Beweis seiner Göttlichkeit geliefert und war von nun an spirituelles Oberhaupt und Anführer des Stammes.