Der Umschlag war feucht. Ein Wachssiegel, fast zerbrochen, etwas krümelig, nicht mehr zu deuten.
Ich rieb mit dem Daumen darüber und konnte dem Impuls nicht widerstehen, es mir unter die Nase zu halten und daran zu riechen. Echtes Wachs.

Ich hatte seit Tagen nicht in den Briefkasten geschaut, war in der ganzen letzten Woche an nicht einem Tag vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause gewesen. Seit dem Brand hatten wir im Archiv mehr zu tun, als wir bewältigen konnten. Für den ein oder anderen von uns war es nicht zuletzt eine tränenreiche Zeit.

Für den Laien mag es schwer vorstellbar sein. Aber für jemanden, der sein Leben der Aufarbeitung, Sichtung und Archivierung alter Schriften gewidmet hatte, bedeuteten die staubigen Pergamente und Bücher in unserem Archiv so viel, wie einem anderen die Familie. Die Tatsache, dass das Löschwasser ähnlich viel Schaden angerichtet hatte wie das Feuer selbst, war uns erst in den letzten Tagen bewusst geworden.

Es würde Monate dauern, bis wir einen Überblick gewonnen hatten. Im Moment ging es nur darum, so viel wie möglich zu sichern und zu konservieren. Ich hatte mich seit Tagen mit der Rettung des wahrscheinlich einzigen, existierenden Exemplars des "Hagazussa buoh" beschäftigt. Doch leider vergeblich. Es würde zu viel Arbeit, Geld und Mühe kosten, dieses Werk zu rekonstruieren. Dabei war es eines der wenigen bekannten, ja geschweige denn erhaltenen Werke in althochdeutscher Schrift überhaupt. Teils verbrannt, teils durchnässt - nach fast 1000 Jahren der Unversehrtheit. Und nun für immer verloren.

Ob die Brandursache jemals geklärt werden würde, war im Augenblick mehr als fraglich.
Meine Gedanken wankten hin und her. Der Umschlag.

Die darauf gestopfte Zeitung könnte daran schuld sein. Die Werbeprospekte. Welch gottlose Verschwendung von Papier. Es wäre also die Schuld des Postboten. Der Regen musste an den beschichteten Hochglanzseiten herab in den Briefkasten, auf den Umschlag gelaufen sein.
Er trug keine Briefmarke. Ich bemerkte, wie mein Daumen jetzt über das schwere, offensichtlich handgeschöpfte Papier des Umschlags rieb. Es hatte eine schöne Struktur, war aber an einigen Stellen sehr aufgequollen. War der Kasten selbst undicht?

Ich drehte den Umschlag. Die Parallelen zwischen ihm und dem Archiv trieben mir fast eine Träne ins Auge. Dort musste mein Name gestanden haben. Jetzt war nicht mehr als verlaufene Tinte davon übrig. Mit etwas Fantasie war noch ein großes R zu erkennen. Die Länge des Bereichs würde mit der Größe des Rs und der Länge meines Namens korrelieren.

Ein Umschlag. Für mich.

Wind kam auf und mir wurde klar, dass ich sicher schon seit Minuten vor der Tür stand. Mit einem Ruck beförderte ich meine lederne Umhängetasche von meiner Seite vor den Bauch und öffnete sie, um mit der freien Hand darin nach meinem Schlüssel zu fischen, fand ihn und öffnete die Tür.

Ich ließ mein Zeug neben der Garderobe fallen und hängte meinen Mantel daran, zog die Schuhe aus.
Es war still im Haus - wie immer. Mit nicht ganz fünf Schritten war ich am Sofa angelangt, legte den Umschlag auf den Couchtisch. Ich müsste den Tisch abschleifen und neu lackieren. Wie alt war er jetzt? Mehr als fünfzehn Jahre? Ringe von Tassen, Kratzer, glänzende und matte Stellen. Selbst dem harten Holz setzte die Zeit zu. Marmor, Stein und Eisen bricht...

Nichts würde auf Dauer bestehen, wenn man es nicht pflegte und nicht Acht darauf gab. Doch wenn man sich einer Sache annahm und sich um sie bemühte, konnte man sie über die ihr natürlich vergönnte Dauer hin bestehen lassen.

Das Wachs gab keinen Aufschluss mehr darüber, ob oder was für ein Symbol oder Siegel es einmal getragen haben mochte. Es war nicht einmal sicher, dass es mein Name gewesen war, den die verschwommene Tinte einmal dargestellt hatte. Vielleicht handelte es sich auch um einen Irrläufer.
Ich holte das Nacessaire aus meiner Tasche, entnahm ihm die feinere Nagelfeile, setzte mich wieder und nahm den Umschlag zur Hand. Ich hielt ihn flach auf Augenhöhe und versuchte unter das Siegel zu schauen. War da ein Haar unter dem Wachs? Ein Rotes?

Ich legte ihn wieder auf den Tisch. Ich übte mit Daumen und Zeigefinger links und rechts des Siegels Druck auf ihn aus und schob mit höchster Vorsicht die Feile darunter. Langsam, geduldig, trennte ich das Wachs vom Papier. Ein Teil davon war in das Papier eingedrungen und färbte es in einem blassen Ton, fast altrosa.

Ich hob das Siegel auf und sah es erstmals von unten. Tatsächlich. Es waren zwei oder mehr Haare unter dem Wachs. Eines hatte ich mit der Feile durchtrennt. Den kürzeren Teil entfernte ich mit der Pinzette und legte es auf ein weißes Stück Papier, um die Farbe bestimmen zu können. Es war entweder rot, oder hatte sich durch das Übergießen mit heißem Wachs verfärbt. Ich schob das Blatt mit Haar und Siegel zur Seite.

Die Feile glitt problemlos unter die Nase des Umschlags und trennte die verbliebenen Teile des Wachses vom Papier.

Ich öffnete den Umschlag.

Ich bin mir bis zum heutigen Tage sicher, dass der Umschlag leer gewesen ist. Dass er nichts enthielt. Nichts außer einem süßlichen Duft, den ich im ersten Moment nicht einmal wahrnahm. Nicht bewusst, zumindest. Ich kann mich in keiner Weise daran erinnern, geschweige denn mir erklären, wie ich in mein Bett kam, wie ich mir meinen Schlafanzug angezogen habe. An nichts davon.

Doch sehr wohl an den lebhaften Traum, den ich in dieser Nacht hatte.

Ich fand mich in einem Garten, einem Hof umringt von niedrigen Mauern. Er war geflutet von hellem Tageslicht und dem Duft von Kräutern. Blüten und Blätter in den prächtigsten Farben strahlten in meinen Augenwinkeln. Aber ich betrachtete sie nicht.

Ich saß auf einem Schemel, an einem Tisch, konzentriert. Darauf lag vor mir, sorgsam auf weißem Tuch drapiert, das zerstörte "Hagazussa buoh".

Ich hielt mein Werkzeug in den Händen. Ich arbeitete an seiner Rettung. Neben mir saß jemand, doch ich hob den Blick nicht vom Papier. Zu angestrengt bemühte ich mich, die vorliegende Seite zu restaurieren.

Eine feine, liebliche Stimme flüsterte mir ins Ohr. Eine Stimme so schön, so liebevoll, dass ich ihr blind vertraute, mich ihr nicht zuwenden musste, um ihr jedes Wort zu glauben.

-
Hilf den minan buoch.
Als Dankbirge macha ik ihan alles guote zuo dir.
Ewich, ab dhanne.
Swuor. Ende macha ik ihan alles guote zuo dir.
-
Rette mein Buch.
Zum Dank mache ich dir alles gut.
Ewiglich, von da an.
Schwöre. Und ich mache dir alles gut.
-


Ich musste nicht überlegen und sprach, ohne vom Papier aufzuschauen. Ohne einen Zweifel. Ich meinte, was ich sagte.

"Ik swuoru!"

Ich wachte schweißgebadet auf und blickte schlagartig nach rechts, in der Erwartung die Person, den Ursprung der Stimme dort zu entdecken. Doch ich lag in meinem Bett, alleine, wie jeden Morgen, seit mehr als einem Jahrzehnt.

Ich rollte mich aus dem Bett, rannte die Treppe hinunter. Ich wunderte mich dabei nicht einmal, dass weder mein Rücken noch mein Bein wie sonst schmerzten. Ich stürzte zum Tisch und blieb verwundert stehen.

Dort lag ein Umschlag. In klaren Kugelschreiberlinien, mit einer mir wohl bekannten Handschrift stand mein Vorname darauf.

Aber das konnte nicht sein.

Der Umschlag war durchnässt worden und die Schrift nicht mehr lesbar gewesen. Was hier lag, war aber unversehrt, weder durchnässt noch verlaufen. Mit zitternden Händen hob ich ihn vom Tisch. Auf der Rückseite war er mit einem Aufkleber, in der Form eines Herzens verschlossen.

Ich versuchte ihn zu vorsichtig genug zu öffnen, um den Aufkleber nicht zu beschädigen, doch es gelang mir nicht und er riss an einer Kante.

Ich holte einen Brief heraus. Er war kurz.


Mein lieber Robert,

ich weiß, es ist lange her. Und ich weiß, dass man nicht alles für immer wieder gut machen kann.
Aber bitte: Gib mir eine zweite Chance.
Ich warte auf dich, am Valentinstag, mittags, in unserem alten Café.

Ewiglich dein, von damals an,
Linda


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