Was hatte Anton sich nur dabei gedacht? Gerade hatte sie sich in der Mensa an ihrem üblichen Platz begeben und, nachdem sie die Krümel vom Sitz entsorgt hatte, Platz genommen hatte, um ihr ausgewogenes Mittagsmenü um Punkt 12 zu sich zu nehmen, als er sich hinterrücks anschlich, ihr die Augen zuhielt und sagte: „Alles Liebe zum Valentinstag!“ Sie erschrak so sehr, dass ihre Gabel mit lautem Klirren zu Boden fiel. Mit einem Ruck stand sie auf, starrte ihn wortlos an und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. So ließ sie ihn stehen und rannte hinaus.
Am Ende des Campus setzte sie sich auf eine Bank. Ihre Atemfrequenz wurde wieder normal. Sie putzte mechanisch ihre Brille, eine Tätigkeit, die sie bevorzugt ausführte, wenn sie angestrengt nachdachte. Valentinstag! Soweit sie sich erinnern konnte, hatte dieser Tag für sie noch nie eine besondere Bedeutung gehabt. Niemand hatte sie je dazu beglückwünscht oder gar „be my valentine“ gesagt. Und dann Anton. Er gefiel ihr ja und sie hätte gern einen engeren Kontakt gehabt, rein akademisch, natürlich. Über einen Austausch von Meinungen und Theorien über die Riemannsche Vermutung
hätte sie sich sogar gefreut, aber an einen Austausch von Intimitäten, wie Augenzuhalten oder weiterführendem war nicht zu denken. Was war nur in Anton gefahren? Vielleicht war ihre Handlung übertrieben gewesen. Sie hatte sich aber dermaßen erschreckt, dass die Ohrfeige mehr ein Reflex als eine durchdachte Reaktion gewesen war. Wie es auch sei: Ihre Vorlesung hatte sie nun verpasst. Sie ging langsam nachhause.
„Du kommst aber früh heute! Kaffee und Gebäck erst in einer Stunde. Deine Post liegt auf dem Schreibtisch“. Ihre Mutter stand an der Spüle und beseitigte die letzten Tropfen auf dem glänzenden Metall. Hier hatte alles seine Ordnung. Auf dem Schreibtisch lagen drei Schreiben, nach Größe geordnet. Das größere enthielt die bereits erwartete Zusage der Assistentinnenstelle bei ihrem Lieblingsprofessor. Das zweite enthielt die Auszüge Ihrer Bankkonten. Das dritte hatte keinen Absender. Ihr Name und ihre Anschrift waren auf der Vorderseite, mit hellblauer Tinte in makelloser Kanzleischrift eher gemalt als geschrieben. Sie zögerte einen Augenblick, dann öffnete sie das Schreiben mit ihrem Brieföffner. Eine Valentinskarte! Elisabeth war verwirrt. Sicher ein Irrtum oder ein Irrläufer. Nein, Name und Anschrift stimmten. Sie öffnete die Doppelkarte, auf deren Vorderseite ein rotes Herz prangte, und las: Auch ich möchte mit dir den Valentinstag feiern. Ich hole dich um 12 ab. Ich freue mich. Unterschrieben war es mit einem großen A.
Elisabeth lehnte sich zurück. Jetzt wurde ihr einiges klar. Der Text der Karte gab ihr noch Rätsel auf. Was hieß hier: auch ich? Sollte…? Sie ging in die Küche. Ihre Mutter tat geschäftig, so als würde sie ihre Tochter nicht bemerken. „Mutti! Hast du mir vielleicht etwas zu sagen?“ Die Mutter drehte sich um. „Ich habe nur in deinem Interesse gehandelt. Anton rief an, fragte, ob du mit ihm den Valentinstag verbringen und ihn am Abend auf den Ball begleiten würdest. Ich versprach ihm dich zu fragen. Da ich aber schon wusste, wie deine Antwort ausfallen würde, schrieb ich ihm eine Nachricht in deinem Namen, wobei ich zusagte. Das ist alles. Man muss dich ja förmlich zu deinem Glück zwingen“. „Da hast du mich in eine unmögliche Situation gebracht. Ich habe ihn sogar heute Mittag geohrfeigt!“ „Dann hast du allen Grund, diese Tätlichkeit gutzumachen“, lachte die Mutter.
„Es war ein herrlicher Abend“, sagte Elisabeth zu ihrer Mutter. „Wir haben beschlossen, enger zusammenzuarbeiten.“ Dabei errötete sie. „Es ist doch erstaunlich, was eine kleine Karte bewirken kann“. Die Lachfältchen der Mutter vertieften sich.