Von Vorsätzen zum neuen Jahr halte ich nicht viel. Meistens endete das Neujahr vorsatzfrei für mich.
Als ich Kind war, fand meine Mama stets etwas, dass ich mir vornehmen konnte: Mich besser benehmen, endlich gute Noten nach Hause bringen oder immer lieb sein.
Denke ich daran, beginnt mein Körper zu zittern.
Generell waren die familiären Silvesterpartys der Horror. Leider kein Halloween-Horror.
Ich weiß nicht, wie weit meine Erinnerungen zurückreichen, ob ich die Jahre vermische. Sicher erinnere ich mich, dass sie einen gut getakteten Ablauf hatten.
Pünktlich 15 Uhr schickte sie mich, meine Schwester und meine beiden Brüder ins Bett. Wir hatten vorzuschlafen.
Machten wir einen Mucks, kam sie angerannt, riss die Tür auf, hielt kurz inne und dann knallte es. Mal mit dem Kochlöffel, den sie wegen der Silvestersuppe in der Hand hielt; mal die Schöpfkelle, mit der sie die Bowle ausschenken wollte oder irgendeinem anderen Gegenstand. Mit der bloßen Hand war sie ebenfalls zielsicher.
Es dauerte zwei Silvester, bis wir begriffen hatten, wie es läuft. Von da an, blieben meine 3,5 Jahre jüngere Schwester und ich in unserem Zimmer mucksmäuschenstill. Meine Zwillingsbrüder, die zwei Jahre nach mir kamen, brauchten eine Kochlöffelrunde länger.
Gegen 18.30 Uhr sollten wir zeitgleich wach werden. Das war für keinen von uns ein Problem, denn wir hatten den Mittagsschlaf nach dem Kindergarten abgelegt.
Ab jetzt folgte ein straffes Programm: Gesicht waschen, die von Mama gewählte Kleidung anziehen und zur "Partybesprechung" ins Wohnzimmer gehen.
Das Wohnzimmer strahlte stets vor Partylaune. Mitten auf dem großen Echtholzschrank mit dem guten Geschirr thronte die Silvesterbowle. Von der Decke hingen Luftschlangen in korrekt abgemessenem Abstand. Auf dem Tisch standen Namenskarten. Unsere Wohnzimmerstühle waren mit schneeweißen Tüchern verhüllt und roten Schleifen dekoriert. Wer von uns Kindern kleckerte, würde es bereuen.
"So, wenn nachher die Tante kommt und euch nach euren guten Vorsätzen fragt, was sagt ihr da?" Mit starrem Blick verlangte sie jedes Jahr aufs Neue eine ihr passende Antwort.
Ideen wie "Reiten lernen" erhielten den Kochlöffel-Applaus.
Meistens brauchten wir Mamas Unterstützung beim Finden von angemessenen Vorsätzen: "Du willst doch bestimmt nur noch gute Noten schreiben."
Seit mein Papa uns verlassen hatte - ich war sieben - machten wir diese minutiös geplanten Feiern.
Auf die Minute genau klingelte Tante Elke, Mamas Schwester. Weil sie kinderlos war und ihr Mann an Krebs starb, kurz bevor Paps uns verließ, lud Mama sie jährlich ein.
Unsere Tante trug jedes Mal das gleiche Outfit, das über die Jahre etwas eng wurde. Äußerte die gleichen Komplimente, machte die gleichen Gesten.
19 Uhr servierte Mum ihre fad abgeschmeckte Suppe. Genussfrei aß ich bis zum letzten Löffel. Schweigen war ein gern gesehener Gast.
Nach dem Abendessen begann die Fragerunde nach den guten Vorsätzen. Dank Mamas Vorbereitungsgespräch konnten wir vor Elke glänzen. Ob sie für sich persönlich Vorsätze hatte, erfuhr niemand von uns. Selbst Mama schwieg sich über ihre aus.
Dafür wurden wir nach dem Einhalten unserer Neujahrsvorsätze beurteilt. Die Tante kramte ihr Notizbuch heraus. Dann befragte sie uns nach unserem persönlichen Gefühl, ob wir Erfolg mit unseren Vorsätzen des ablaufenden Jahres gehabt hätten. Meine Mama war stets bereit, unsere Einschätzungen zu korrigieren.
Das Urteil von Tante Elke beschränkte sich Jahr für Jahr auf tadelnde Worte in Kombination mit passender Mimik. Tantchen hatte für jeden einen Verbesserungsvorschlag. Sogar für meinen gute-Noten-Vorsatz. Eigentlich dachte ich, es würde reichen, ein komplettes Jahr lang nur Einsen zu schreiben. Elke sah dies anders. Für sie bedeuteten gute Noten, fehlerlos zu sein. Unsere Tante ließ sich alle Kopien von Klassenarbeiten - die meine Mutter ohne mein Wissen extra für Silvester anfertigte - geben. Mit strengem Blick kontrollierte sie die Korrektur. Hin und wieder kommentierte sie meine Antworten. Fand sie keinen Kritikpunkt in meinen Lösungen, kritisierte sie meine Rechtschreibung, die Sauberkeit oder wie ich in Mathe meinen Lösungsweg aufschrieb. Bis Neujahr wusste ich, dass ich keine einzige Eins verdient hatte.
Der Abend schritt fort. Gegen 22.30 Uhr hatten Mum und Tantchen die Bowle geleert. Beide kicherten miteinander, kramten die Karten hervor, spielten mit uns Rommee. Weil Tante Elke gern gewann und eine Niederlage sie zum She-Hulk machte, taten wir alles, um auf der Verliererseite zu stehen. Mami machte dies glücklich. Als ich ihr gestand, keinen Spaß am Rommeespiel zu haben, erklärte sie mir, dass wir dadurch lernen, mit dem Verlieren umzugehen. Für meine Mutter waren Spiel und Spaß grundverschiedene Dinge. Ich hatte also die Wahl: Kochlöffel oder spaßfreies Kartenspielen.
Mit 18 bestand ich mein Abitur mit Bestnoten. Meine Karte für ein silvesterfreies Leben. Ich suchte mir eine renommierte Uni, erhielt ein Stipendium und zog in ein Wohnheim. Von da an feierte ich Silvester allein. Vorbei mit den guten Vorsätzen.
Sogar mein Freund konnte mich nicht zur Silvesterparty überreden.
Aus Gründen der Liebe habe ich kürzlich eine Therapie begonnen. Mit dem Psychotherapeuten arbeite ich an meinem Ziel "Silvester mit meinem Freund zu feiern". Herr Winkelmann hat mir erklärt, dass ich Silvester ohne Vorsätze verbringen darf. Ich bin skeptisch. Wenn ich an das Jahresende denke, bekomme ich schwitzige Hände, wippe mit meinen Füßen und grinse verlegen. Einmal habe ich meine Bedenken mit dem Psychotypen besprochen, aber als ich meinte, dass für mich Ziel und Vorsatz das Gleiche sind, bat mich Winkelmann beides mit meinen Worten zu definieren. Ein guter Schachzug. Und Schach Matt für mich.
Seitdem bin ich verwirrter als jemals zuvor. Meinen Kopf voll Gedanken über diese beiden Worte, gepaart mit Silvestererinnerungen, kann ich abends kaum einschlafen.
Drehe ich meinen Kopf nach links auf meinem flauschigen Kissen, denkt sich meine Mama neue Vorsätze aus. Ist mein Kopf nach rechts gerichtet, analysiert meine Tante meinen Vorsatz-Erfolg. Liege ich mittig, schmerzt mein Rücken, während mein Gehirn über Ziel und Vorsatz philosophiert.
Es gibt keine Lösung für mich, kein Entkommen. Immer wieder definieren sich beide Worte gleich.
Wahrscheinlich muss ich mir wirklich vornehmen "keinen Vorsatz mehr zu haben".
Ein Lebensziel.