„Ich habe solche Symptome noch nie in Kombination gesehen. Sie etwa?“ Kopfschüttelnd sieht Dr. Prof. Roth zu seinen Kollegen.
Niemand antwortet darauf. Es ist sowieso unnötig. Jeder weiß, dass sie es hier mit einem völlig neuen Krankheitsbild zu tun haben.
Seit einigen Tagen kommen immer mehr Patienten in die Kliniken. Es fing in Nienburg, eine Stadt in Niedersachsen, an. Eine Frau hatte sich zu Hause mehrfach übergeben, kam nicht zur Ruhe. Der Notarzt konnte ihr Übel zwar stoppen, aber dann wurde ihr kompletter Körper taub. Kurz darauf verlor sie ihre Sehfähigkeit. Daher wurde sie per Krankenwagen ins Nienburger Krankenhaus eingeliefert. Entsprechend der neurologischen Symptome erfolgte ein Screening auf Schlaganfall und die Unterbringung der Patientin auf der Stroke-Unit.
Doch keine der Untersuchungen konnte einen Schlaganfall bestätigen. Nach ungefähr fünf Stunden Krankenhausaufenthalt büßte die Dame ihr Hörvermögen ein. Wieder fanden die Ärzte keine Ursache dafür. Laut den Ergebnissen würden alle Bereiche des Gehirns funktionieren.
Am späten Abend schlug eine Krankenschwester Alarm. Die taube und blinde Frau lief auf der Station umher. Ihre Bewegungen wirkten roboterhaft. Um die Patientin zu schützen, versuchte die Schwester sie in ihr Bett zu legen, jedoch ohne Erfolg. Der Körper der Frau versteifte sich total.
Selbst ein dazu geeilter Pfleger konnte die Dame kein bisschen bewegen. Nach etlichen Versuchen kam Aktivität in die Erkrankte. Irgendetwas verlieh der Patientin eine überirdische Muskelkraft, mit der sie sich tatkräftig zu wehren begann. Der Pfleger wurde für den Rest des Dienstes ausgeknockt. Auch die Krankenschwester erlitt etliche Blessuren.
Letztendlich half nur ein Beruhigungsmittel.
An die Überwachung angeschlossen, zeigte sich neben einem viel zu geringen Puls ein geringer Blutdruck. Die Atemfrequenz war gefährlich tief. Überraschenderweise blieb die Sauerstoffsättigung hoch. Irgendwie musste der Körper den Sauerstoffgehalt aufrechterhalten. Wild gestikulierend setzte sich ein Neurologe ans Telefon und debattierte verschiedene Möglichkeiten mit seinem Tauchlehrer durch. Auch wenn beide die Erklärung im Apnoetauchen suchten, blieben mehr Fragen als Antworten übrig.
Panik unter Ärzten und Schwestern machte sich breit. Wild diskutierten die Neurologen mit den Krankenschwester, was denn die nächste Maßnahme sein könnte. Vielleicht den Blutdruck regulieren? Das Beruhigungsmittel absetzen? Auf Entzündungen untersuchen? Den Schädel für Untersuchungen am Gehirn eröffnen?
Weil sich die Fremdaggression trotz beruhigender Medikation in eine Selbstaggression auswirkte, versetzten die diensthabenden Ärzte die Dame in ein künstliches Koma. Ein Versuch Zeit zu gewinnen und um weitere Untersuchungen durchführen zu können. Doch nach wie vor blieb alles ergebnislos. In der Punktion des Hirnwassers zeigten sich keinerlei Hinweise auf entzündliche Reaktionen. Zusätzliche MRTs und Cts lieferten ebenfalls keine genauen Erkenntnisse.
Alles blieb rätselhaft. Symptome ohne Ursache.
In der Hoffnung auf Hilfe durch Kollegen, nahm der Stationsarzt Kontakt mit anderen Krankenhäusern auf. Zunächst hatte niemand eine Idee, sie hielten es sogar für einen bösen Scherz. Der Nienburger hatte nicht auf das damalige Datum geachtet: 01. April.
Schließlich meldete sich eine weitere kleine Klinik zu Wort, die einen Mann mit gleichen Symptomen aufgenommen hatte. Lediglich einen Tag später schrillen die Telefone hochrangiger Neurologieprofessoren unerbittlich, um über eine weitere Dame, deren Krankheitsverlauf sich ähnelte, zu berichten.
Niemand hatte eine Idee, wie er den Patienten helfen könnte.
Als plötzlich Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte, die direkten Kontakt zu den betroffenen Menschen im Krankenhaus hatten, einen ähnlichen Krankheitsverlauf erlebten, war das Chaos perfekt.
Viel zu spät reagierten die obersten der Oberen. Viel zu spät wurde der Notstand ausgerufen. Und viel zu spät wurde ein Gremium einberufen.
Einem findigen Datenanalytiker gelang es letztlich, die Gemeinsamkeit der Ursprungspatienten herauszufinden. Sie alle drei waren direkte Zeugen eines harmlosen Meteoriteneinschlages in Niedersachsen. Dank der Erdatmosphäre schmolz der kosmische Eindringling auf ein Minimum, sodass er als kleiner Stein auf die Erde fiel.
„Wie viele sind inzwischen betroffen?“ Dr. Prof. Roth sieht zu seinen Kollegen.
„12483“ Ohne den Leiter des Gremiums anzusehen, wirft ein ergrauter Mann namens Achim Denkner die Zahl in den Raum.
„Und die Verdopplungsrate?“
„Liegt bei 2,4 Tagen.“ Weiterhin meidet Achim den Blickkontakt, als habe er Angst für die missliche Lage verantwortlich gemacht zu werden.
Der Gremiumsleiter greift sich in seine dürre Haarpracht. Viel ist nicht mehr übrig von seiner einstigen Elvistolle.
Unerwartet öffnet sich die Tür des Konferenzzimmers. Eine junge Frau stürmt herein, scannt den Raum mit schneller Augenbewegung und hetzt weiter. Ihr Ziel ist der Gremiumsleiter. Ihm gibt sie mit zitternden Händen einen dicht beschriebenen A4-Zettel. Hektisch atmend bleibt sie neben ihm stehen und wartet auf Anweisungen von ihm.
Dr. Prof. Roth liest alles aufmerksam durch, nickt mehrfach.
„Wir haben eine Ursache. Ein unbekannter Pilz befindet sich auf den Hirnhäuten der Patienten. Was er genau macht, wird erst untersucht. Höchstwahrscheinlich stammt er vom niedersächsischen Meteoriten. Es gibt Übereinstimmungen bei den Proben. Demnach lag ich mit meiner Vermutung, dass der Erreger außerhalb der Erde anzusiedeln sei, nicht im Unrecht. Meine Kritiker dürfen nun das Fiction in Science Fiction streichen.“ Breit grinsend sieht der leitende Experte die Gremiumsrunde an. „Der Übertragungsweg ist offenbar die Luft. Denn er verbreitet sich anscheinend per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch. Wir können uns gleich über Schutzmaßnahmen unterhalten. Zunächst möchte ich der neuen Erkrankung einen neuen Namen verleihen.“
„Was ist mit dem Namen, den die Medien gegeben haben?“ Eine Virologin sieht Dr. Prof. Roth fest in die Augen. Sie ist seine größte Kritikerin. Ihrer Meinung nach kann die Ursache nur irdisch sein.
„Neurologisches Ermüdungssyndrom? Das erschien mir stets unzureichend. Zumal nun ein Pilz die Ursache darstellt. Nein, ich möchte viel mehr einen passenden Namen und zugleich einen ICD-Code dafür beantragen.“ Mit ausdrucksstarkem Blick versucht der Leiter jeden einzelnen Experten in diesem Raum von einer Erwiderung abzuhalten. Dies ist seine Chance, in die Annalen der Medizin eingehen zu können. Bereits als junger Student träumte er davon, einer Krankheit einen Namen zu verleihen.
„Und der wäre?“ In der Stimme der Virologin schwingt Gereiztheit mit.
„Extraterestrische Meningomykose und X2438-A-49 als ICD-10-Code.“ Den lateinischen Namen hat er sich spontan beim Lesen des Berichtes zur Ursache einfallen lassen. Über den Code hat er bereits vor einigen Tagen gegrübelt. Er enthält Zahlen, die für ihn von großer Bedeutung sind sowie den Anfangsbuchstaben seiner verstorbenen Frau Anna.
„Aber X243 … entschuldigen Sie, den Rest habe ich vergessen … entspricht nicht den üblichen … also die ICD-10-Codes sind sonst … “ Der ergraute Achim räuspert sich nervös, bringt jedoch kein weiteres Wort zu Stande.
„Ja, nun. Die Ursache entspricht ja auch kein bisschen dem Üblichen.“ Nach diesen Worten wagt keiner der anderen Experten mehr, Dr. Prof. Roths exzentrisches Gehabe in Frage zu stellen.
„Und nun können wir …“ Bevor Dr. Prof. Roth weiterreden kann, beginnt Achim Denkner zu würgen und erbricht sein Mittagessen direkt auf dem Tisch vor ihm.


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