Wie kann es sein, dass man vom Schlafen müde wird, ging es Angelika durch den Kopf, als sie sich mit der ausdauernden Dummheit eines Übermüdeten versuchte, den rechten Schuh über den linken Fuß zu ziehen.
Aber wen wundert es auch, dass eine Nacht voller absurder Träume, in denen ein ganzes Bataillon Foxtrott tanzender Geister, die ihr zum rechten Ohr rein und zum linken Ohr wieder heraus spaziert waren, die Hauptrolle gespielt hatten, keine Erholung mit sich bringt. Und der Effekt hielt an. Ihr war immer noch kalt und ihr Kopf fühlte sich an, als hätte sie gerade mit Schwung in eine Eisscholle gebissen. Brain Freeze, half ihr ein, von der Kälte und Müdigkeit ganz langsamer Gedanke aus.
Angelika setzte sich aufrecht hin und betrachtete nachdenklich ihren Schuh. Gestern hatte er doch noch gepasst. Sie hielt inne, um sich Gedanken zu machen. Als sie nach geschlagenen zehn Minuten das Problem noch immer nicht gelöst hatte, erkannte sie, dass sie von ihrem Hirn heute möglicherweise keine Hilfe erwarten konnte und gab auf.
Vielleicht war heute einfach kein Tag für Schuhe, dachte sie, als sie sich vier weitere Paar Socken über die kalten Füße streifte. Sollten die Schuhe halt machen, was auch immer Schuhe an ihrem freien Tag so machten. Vermutlich trafen sie sich mit ihrem Hirn auf dem Golfplatz.
Sie blickte auf und stutzte. Irgendwas war anders als sonst. Es war wie eines dieser Rätselbilder für Kinder, auf denen man fünf Fehler finden musste. Kleine Details, die von der Wirklichkeit, von dem echten Bild, abwichen.
Angelika hatte den Fehler immer noch nicht gefunden, als ihr ein nasses Ahornblatt auf der Suche nach menschlicher Nähe ins Gesicht klatschte.
Sie zuckte zusammen, als hätte man auf sie geschossen und fiel beinahe nach hinten über, auf das Bett.
„Das war knapp“, dachte sie. „Hätte mein Kopf Kontakt mit dem Kissen gehabt, wäre ich vermutlich sofort wieder eingeschlafen.“
Dann, in einem plötzlichen Moment der Klarheit hatte sie eine Eingebung.
„Moment mal!“, sagte sie laut. „Ich habe überhaupt keinen Ahornbaum in meinem Schlafzimmer!“
Das wusste sie genau. Sie sah die Stelle in dem Mietvertrag vor sich, wenn sie die Augen schloss.
‚Keine Haustiere, keine Bäume, keine Hippies‘
Aber das musste bedeuten …
Noch einmal blickte sie Richtung Zimmerdecke und wurde beinahe zum Opfer einer gemeinen gemeinen Paviankrähe. Die unbeliebteste Vogelart der Welt, die ihrer Angebeteten zur Paarung den großen, roten Hintern präsentieren und unbedachten Spaziergängern dessen Inhalt.
Der Vogelkot auf Ihrer Matratze ließ nur einen Schluss zu. Ihr Dach, das sie bisher so tapfer gegen Spanner auf Google Earth verteidigt hatte, war weg.
„Wie schrecklich“, dachte Angelika verwirrt und entgeistert zugleich. Den Blick immer noch nach oben gerichtet, um einem weiteren Bombenangriff ausweichen zu können, tastete sie nach dem Telefon, das neben ihr auf dem Nachtkästchen stand. Ein großes rotes, mit Wählscheibe.
Sie hatte den Hörer schon in der Hand und das leise Rauschen eines ungetätigten Anrufes im Ohr, als sie darüber nachzudenken begann, wen sie überhaupt anrufen sollte.
Die Dachdecker? Den Wetterbericht, um herauszufinden, wie groß das Problem heute noch werden würde? Die Polizei?
Obwohl sie oft gehört hatte, dass die Polizei Obdachlosen mehr Probleme machte, als löste, beschloss sie trotzdem auf der Wache anzurufen.
Schnell drehte sie drei mal an der Wählscheibe. Es begann zu tuten.
Ganze acht Mal musste sie es klingeln lassen, bis endlich jemand den Hörer abnahm.
„Ja, was gibt’s denn?“, fragte unvermittelt die genervt klingende Stimme eines Mannes.
„Äh, ja … Hallo … Äh …“, stotterte Angelika, als einer jener Menschen, die sich als Anrufer immer von der Tatsache aus dem Konzept bringen lassen, dass am anderen Ende wirklich jemand abnimmt. „Spreche ich mit der Polizei?“, fragte sie die Polizei.
„Ja, natürlich sprechen Sie mit der Polizei“, sagte die andere Stimme immer noch in dem genervten Tonfall, den alle Menschen haben, die hauptberuflich telefonieren. „Wer sonst hat eine Telefonnummer, die nur aus drei Ziffern besteht?“
„Die Feuerwehr?“
Kurze Stille. „Touché. Also was kann ich für Sie tun, Frau …?“
„Stich“, vervollständigte Angelika den Satz. „Nun … Also es mag vielleicht merkwürdig klingen, aber … Also mein Dach ist weg.“
Sie hatte es zum ersten Mal laut ausgesprochen und war überrascht davon, wie bescheuert sich das anhörte.
„Aha“, sagte der Polizist und Angelika konnte hören, wie er etwas auf einer Tastatur tippte.
„Naja und jetzt wollte ich …“, setzte sie an, aber der Polizist unterbrach sie.
„Und wann haben Sie den Diebstahl zum ersten Mal bemerkt?“, fragte er in dem routinierten Tonfall eines Burger King Mitarbeiters, der wissen will, ob man noch eine große Cola zu dem Diätmenü möchte.
„Vor ein paar Minuten“, antwortet Angelika. „Ich bin aufgewacht und dachte mir, irgendwas stimmt nicht und … Sagten Sie Diebstahl?“, unterbrach sie sich selbst, nachdem sich die Worte des Beamten durch ihren Gehörgang gekämpft hatten.
„Allerdings. Ich fürchte Frau, äh …“
„Stich.“
„Richtig. Ich fürchte, Sie sind Opfer der dreisten Decken Diebe geworden.“
Manchmal sagen sie Leute die absurdesten Sachen und tun dann einfach so, als sei alles gesagt.
Angelika wartete eine Weile, aber aus Sicht – oder vielmehr aus Gehör – des Polizisten war wohl alles klar.
„Die dreisten Decken Diebe“, wiederholte sie langsam.
„Die dreisten Decken Diebe“, wiederholte der Polizist und sie konnte beinahe hören, wie er leicht mit dem Kopf nickte.
„Die werden in letzter Zeit immer dreister, muss ich sagen. Zuerst war die Sache ja noch recht harmlos“, sagte er und verfiel nun in einen Plauderton.
„Anfangs brachen sie Nachts hin und wieder in Häuser ein und stahlen lediglich Bettdecken, Tischdecken und dergleichen, verstehen Sie. Lappalien, mit denen sich die Polizei kaum befassen kann. Doch dann fingen sie an, Teile der Straßendecke zu stehlen – daher die ganzen Schlaglöcher – und das war dann schon ein ernstes Problem. Wie es scheint, haben sie ihren Markt vor kurzem jedoch noch erweitert und machen nun nicht einmal mehr vor Zimmerdecken halt. Dabei gehen sie äußerst bedacht vor, und meistens bemerken ihre Opfer den Diebstahl erst, wenn die Bande die Ware schon außer Landes geschafft hat.“
Angelika rieb sich den schmerzenden Kopf. „Ja, aber, was mache ich denn jetzt?“, fragte sie schließlich. „Ich kann doch nicht in einem Haus ohne Dach leben.“
„Nun, da sehe ich leider schwarz, Frau, äh …“
„Stich!“
„Mäßigen Sie bitte Ihren Ton, Frau Stift“, sagte der Mann und klang nun zum ersten Mal wie ein Polizist. „Wir tun in dieser Sache unser Möglichstes, aber erfahrungsgemäß muss ich Ihnen leider mitteilen, dass die Chancen Ihr Dach aufzuspüren verschwindend gering sind. Möglicherweise haben Sie einen Nachbarn oder einen Freund, der Ihnen sein Dach für eine Weile zur Verfügung stellen kann, wenn Sie so dringend eines benötigen.“
„Nein“, sagte Angelika Müde. „Ich fürchte, mein Nachbar braucht sein Dach selber.“
„Bedaure“, sagte der Polizist mechanisch. „Nun, wenn Sie ansonsten keine Fragen haben … Wir melden uns bei Ihnen, sollte Ihre Decke irgendwo auftauchen.“
„Ja, gut. Danke vielmals“, antwortet sie zögernd und hatte das Gefühl soeben über den Tisch gezogen worden zu sein. „Aber …“, setzte sie noch an, aber ihre Worte verhallten ungehört in den unendlich Weiten der Telefonleitung. Die Polizei hatte aufgelegt.
„Haben bestimmt wichtigeres zu tun“, murmelte Angelika und ließ den Hörer sinken.
Mehrere Minuten saß sie still auf ihrem Bett und versuchte Sinn in das alles zu bringen. Dann gab sie einfach auf.
Manche Tage lohnen sich nicht, dass man sie beginnt. Manche Tage können bis morgen warten, dachte sie, als sie sich wieder hinlegte, das Kissen zurecht klopfte und beinahe augenblicklich wieder einschlief.
Ihr Geist war schon lange in das Reich der Träume geflüchtet, als die gemeine gemeine Paviankrähe ihr Ziel doch noch fand.