Eigentlich wollte Susi heute zusammen mit ihrer Clique und ihrem Freund die Nacht durchfeiern. Morgen, am ersten November, stand ihr Geburtstag an. Dummerweise hatte dann einer nach dem anderen aus der Gruppe abgesagt. Nachdem auch noch ihr Freund kurzfristig verreisen musste, war der Plan endgültig im Eimer.
Sie hatte sich schon damit abgefunden, den Abend alleine auf der Couch zu verbringen, als sie beim Öffnen des Briefkastens einen Umschlag entdeckte.
Darin befand sich eine Art Scheckkarte, auf der lediglich ein Schlüssel-Symbol prangte. Außerdem ein Brief mit einer Adresse, einer Uhrzeit und der Nachricht „Lass dich heute Nacht überraschen“.
Das Suchprogramm ihres Computers wurde bemüht und die angegebene Anschrift eingegeben. Es handelte sich um ein sehr altes Haus, in dem gruselige Aufenthalte angeboten wurden, wie im Hamburger Dungeon. Oder eines dieser beliebten Escape-Spiele.
Susi ging davon aus, dass die Freunde ihr ein Abenteuer schenken wollten, sozusagen als Entschädigung für die ausgefallene Party. Ihre Liebe zu Horrorgeschichten war allseits bekannt.
Sie überlegte und entschied sich dafür, das Geschenk anzunehmen.
Etwas verwirrt stand sie nach Einbruch der Dunkelheit vor dem Eingang des Objekts. Niemand zu sehen. Unter der Aufschrift „Treten Sie ein!“ befand sich ein Kartenleser.
Nun gut, dachte Susi, was kann schon passieren.
Sie hielt die Karte an das Gerät und ging hinein.
Kaum hatte sie das Foyer betreten, öffnete sich einladend die Tür eines Aufzuges.
Susi betrat den Lift und drückte auf den einzig vorhandenen Knopf, der in der Form eines auf der Spitze stehenden Dreiecks rot leuchtete.
Der uralte Fahrstuhl setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und legte den Weg hinunter mit der Langsamkeit radioaktiven Zerfalls zurück. Der Untergang des Römischen Reiches war bestimmt rascher von sich gegangen. Susi hatte keine Ahnung, wie diese hydraulischen Dinger funktionierten, aber wenn dieser hier Wasser benutzte, dann musste, nach seiner Langsamkeit zu urteilen, die Flüssigkeit verdampfen, damit er hinunter fuhr, und kondensieren, damit er wieder hinauf fuhr.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam das altertümliche Gefährt endlich zum Stehen … und nichts geschah. Die Tür blieb verschlossen.
Susi suchte vergeblich andere Bedienungselemente, zückte ihr Handy und stellte fest, dass es keinen Empfang hatte.
Sie wollte gerade gegen die Metalltür hämmern, da meldete sich aus unsichtbaren Lautsprechern eine computergenerierte Stimme.
„Lieber Gast, leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass aufgrund unvorhersehbarer Umstände die gebuchte Leistung nicht erbracht werden kann. Wir bitten um Ihr Verständnis.“
„Na toll“, schrie Susi fast, „das fällt denen jetzt ein. Na dann fahrt mich halt wieder hoch.“
Im Gegensatz zu ihrer Aufforderung öffnete sich die Aufzugtür und gab den Blick in einen langen Gang frei, in dem vereinzelt schmutziggelbe Leuchten das Dunkel eher aufsaugten, anstatt es zu bekämpfen.
Susi betrat den unheimlichen Flur und erzeugte dabei mit der Taschenlampe ihres Handys gespenstische Formen an den Wänden, die an die fiebrigen Visionen einer Kugelfischvergiftung erinnerten.
Der Lichtkreis des provisorischen Scheinwerfers tastete wie ein winziges, zitterndes Leuchtinsekt über den Boden, glitt mit huschenden, schnellen Bewegungen nach oben, streifte eine Tür und kam ruckartig zurück. Wie versteinert starrte Susi sekundenlang auf das massive Holzportal, bis sie den Mut fand, die Klinke herunter zu drücken.
Das Tor öffnete sich zu einem misstrauisch schmalen Spalt.
Im Gang hinter ihr senkte sich Dunkelheit wie Tinte, die in ein Glas Wasser gegossen wurde.
Im fahlen Schein ihrer Handylampe, der inzwischen einzigen Lichtquelle in diesem Gemäuer, erspähte sie sechs Figuren, die sich wie ein zusammenhängender Scherenschnitt ausmachten.
Plötzlich wurde die Tür ganz aufgerissen, Arme packten sie, zerrten sie in den Raum hinein und verbanden ihr die Augen.
Wie durch einen Schleier erahnte sie wenige Augenblicke später die angeschaltete Deckenbeleuchtung.
„Ich glaube, sie ist bereit“, erklang eine Stimme, die Susi erstaunlicherweise bekannt vorkam. Dann entfernte man die Augenbinde.
Nachdem sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, fand sie sich in einem großen Raum wieder, dessen gemauerte Runddecke an mittelalterliche Keller erinnerte.
Ihr Blick wanderte nach unten und entdeckte … ihren Freund, der vor ihr kniete.
„Willst du mich heiraten?“ Lächelnd sah er Susi an.
Die schloss die Augen, schluckte, und versuchte, ihren Puls aus der Erdumlaufbahn zurückzuholen.
„Das wirst du mir büßen!“, war die einzige Erwiderung, die ihr spontan einfiel.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, schob sie hinterher: „Und zwar für den Rest unseres gemeinsamen Lebens“.
Der Jubel der anwesenden Freunde besiegelte das Versprechen.