Andrej schwebte in horizontaler Lage auf der Stelle und starrte gebannt auf das kleine gläserne Quadrat, dass auf Brusthöhe in die Wand eingelassen war. Natürlich war es kein normales Glas, das hätte dem Druck keine Sekunde standgehalten, doch Andrej wusste nicht wie das Material hieß aus dem sein Fenster bestand und es war ihm auch egal. Für solche Sachen waren andere zuständig. Menschen die ihr Leben lang studiert hatten und nun, unten auf der Erde in der Schaltzentrale saßen und ihn und seine Kapsel über hunderte von Monitoren beobachteten. Es waren viel klügere Menschen als Andrej. Deswegen war er ja auch hier oben, wo kein Lebewesen zu sein hatte. Umgeben von dem unendlichen Nichts. Dem undefinierten Raum zwischen den Räumen. Und sie waren weiterhin dort unten. In der Realität.
Als die Amerikaner vor 10 Jahren erfolgreich das erste Objekt – es war eine kleine Metallkugel aus der eine winzige amerikanische Flagge ausgefahren werden konnte – in das Weltall geschossen hatten, wurde die ganze Welt ganz unruhig.
Mit einem Mal wollte jede Nation so viel Zeit wie nur möglich mit der Forschung an der Raumfahrt verbringen. Das lies nur sehr wenig Geld und Ressourcen für den Krieg und andere Streitigkeiten, die die Entwicklung der Menschheit ihre gesamte bisherige Existenz lang behindert hatten.
Natürlich wurden immer noch Kriege geführt, aber nur noch gegen Länder, die sich nicht wehren konnten. Niemals zwischen zwei Großmächten, wie Indien, der Sowjetunion oder den USA.
Das Ergebnis war, dass sich Wissenschaftler aus allen Enden der Welt zusammengeschlossen hatten um schneller Erfolge vorweisen zu können. Die klügsten Menschen der Welt. Aber dennoch brauchten sie am Ende jemanden wie Andrej, denn merkwürdigerweise war die Liste von Wissenschaftlern, die sich freiwillig zu der ersten bemannten Raummission gemeldet hatten sehr sehr kurz gewesen.
„Die Großköpfigen haben Affen da hoch geballert“, hatte Nico gesagt, Andrejs Bruder. „Und bald wollen sie Menschen nach oben bringen. Da bist du doch der logische Zwischenschritt, Andrej!“
Andrej hatte sich gemeldet, ohne recht daran zu glauben, doch man hatte sich für ihn entschieden. Andrej hatte nie erfahren wieso. Sicher nicht wegen seines Intellekts.
In der Kapsel gab es ohnehin nicht viel für ihn zu tun, sie wurde fast komplett von der Erde aus gesteuert. Nur manchmal kam es zu Problemen mit der Verbindung zur Erde. Als das erste Mal der Kontakt komplett ausfiel, hätte Andrej fast eine Panikattacke bekommen, so einsam hatte er sich mit einem Schlag gefühlt.
Die meiste Zeit unterhielt er sich mit einem der Wissenschaftler, die gerade nicht viel zu tun hatten, oder er schwebte mit angezogenen Beinen mitten in der Luft und sah aus dem Fenster.

Egal aus welchem Material das Fenster nun bestehen mochte, es war ein Fenster und das entscheidende daran war, dass man hindurchsehen konnte. Auch wenn man dafür eine recht ungewöhnliche Haltung einnehmen musste.
An die Schwerelosigkeit hatte sich Andrej recht schnell gewöhnt, aber nicht an die riesige blaue Kugel, die zweimal am Tag langsam an seinem kleinen Fenster vorüberzog.
Seine Heimat. Kein Land, und auch nicht irgendein Kontinent, nein. Von hier aus waren das alles nur Kleinigkeiten. Sogar die Sowjetunion, die über die letzten Jahrzehnte noch einmal um einiges zugelegt hatte. Dieser ganze Planet war seine Heimat. Dort unten lebte er und dort hatten auch alle, wirklich jeder einzelne seiner Vorfahren gelebt.
Von hier oben - oder drüben, oder unten, wer wusste das schon – sah man keine Spur von ihnen. Nur an den dunklen Flächen, die mit kleinen Lichtern übersät waren, konnte man erkennen, dass der Planet bewohnt war.
Zweimal am Tag, oder konkreter gesagt, zweimal alle vierundzwanzig Stunden, zog die Erde an ihm vorüber.
Das waren die ruhigen Momente. Er schaltete alles ab, was nicht notwendig war und auch das Videotelefon blieb, wenn auch weiterhin eingeschaltet, stumm. Die Männer und Frauen in der Basis auf der Erde respektierten seine Ruhezeiten. Immerhin war genau diese Fähigkeit, Stille und Einsamkeit zu ertragen einer der Gründe gewesen, weshalb man Andrej für diese Aufgabe ausgesucht hatte, wie sich nach den ersten Verbindungsproblemen herausgestellt hatte.

Dann ohne jede Vorwarnung bewegte sich die linke Wand seiner Raumkapsel mit atemberaubender Geschwindigkeit auf ihn zu. Andrej schaffte es gerade noch die Arme über dem Kopf zusammenzuschlagen, als die Wasseraufbereitungsanlage auch schon gegen ihn prallte.
Er stieß sich ohne viel Mühe von der Wand ab und schüttelte den Kopf. Das Display und der Alarm schalteten sich gleichzeitig ein. Auf dem Bildschirm war eine Frau mittleren alters zu sehen. Sie trug ihre Haare kurz geschnitten und trug einen blauen Overall.
„Was ist da los?“, fragte Marike sofort mit leichtem französischen Akzent.
„Einschlag.“, sagte Andrej und merkte wie sein Hirn auf Automatik umschaltete. „Die lebenserhaltenden Systeme scheinen nicht unmittelbar beschädigt zu sein. Immerhin lebe ich noch.“
Er warf einen Seitenblick aus dem Fenster und sah, wie die unzähligen Sterne, die sonst immer eine so beruhigende Wirkung auf ihn hatten, an ihm vorüber flitzten. Manchmal erhaschte er auch einen kurzen Blick auf die Erde oder die Sonne.
„Ich rotiere ziemlich schnell.“, berichtete er und gab sich Mühe eine ruhige Stimme zu behalten. „Wie ist meine Position?“
„Wir überprüfen das gerade“, sagte Marike ruhig. Sie hatte noch kein einziges Mal den Blick von der Kamera abgewandt, so dass Andej ihr direkt in die Augen blicken konnte.
Er wusste, dass sie geschult darin war Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen, damit er den Kopf nicht verlor, auch wenn die Lage aussichtslos war.
Andrej blickte ihr starr in die Augen und zwang sich langsame, tiefe Atemzüge zu nehmen, um der Panik Herr zu werden, die sich in seiner Brust auszubreiten drohte.
Er wusste genau, dass er sich in einer schlimmen, wahrscheinlich sogar fatalen Situation befand. Und dass er, über die Verbindung zur Erde die Wissenschaftler fieberhaft diskutieren hören konnte, ohne jedoch klare Worte ausmachen zu können, machte seine Lage nicht besser.
Dann plötzlich Stille. Sie hatten den Alarm abgeschaltet

„Andrej?“
„Ja, Marike?“, fragte Andrej und gab sich dabei betont lässig.
„Du rotierst sehr schnell und der Einschlag hat dafür gesorgt, dass du dich von der Erde entfernst“, sagte Marike, immer noch in dem ruhigen Tonfall und ohne, dass sich ihre Mine auch nur im geringsten Veränderte. Es war, als würde sie mit ihm über das gestrige Wetter sprechen.
„Hmm“, sagte Andrej und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Irgendwie war diese gesamte Situation doch vollkommen absurd. Er, in einer Dose aus einem Material, dass er nicht benennen konnte und mitten im Weltraum. In, wie es wirkte, greifbarer Nähe die Erde. Und er sprach mit einer Frau, die tatsächlich auf dem Planten dort drüben saß und sie unterhielten sich wie beim Nachmittags-Kaffee über seinen sicheren Tod.
„Und was können wir da machen?“, fragte er. Sein Herz raste nun nicht mehr. Er atmete ganz ruhig.
Nach einer kurzen Pause sagte Marike: „Deine Kapsel entfernt sich zu schnell, wir können die Bewegungsrichtung nicht umkehren. Es fehlt den Boostern an Treibstoff.“
Adrej nickte sanft mit dem Kopf. „Scheiße“, sagte er.
„Scheiße“, stimmte ihm Marike zu.
„Aber“, setze sie an. „Wir können die Rotation von hier aus stoppen. Wenn wir keinen Fehler machen, könnten wir dir eine gute Aussicht auf die Heimat ermöglichen. Nur wenn du das willst, natürlich.“
„Das würde mich sehr freuen“, sagte Andrej sofort.
Er schob sich hinüber zu seinem Fenster und nahm die ihm so vertraute Haltung ein. Nach einiger Zeit, konnte er erkennen, dass die Sterne langsamer an ihm vorüber zogen und dann schob sich, Zentimeter für Zentimeter, der blaue Planet in sein Sichtfeld.
Andrej war überrascht, wie klein sein Zuhause bereits geworden war und eine Träne lief seine Wange hinab.
„Anrej?“, sagte Marike. Sie war durch die verschiedenen Störgeräusche hindurch kaum noch zu verstehen. Die Verbindung würde jeden Moment abreißen.
„Ja, Marike?“
„Bon Voyage.“
Dann war es still. Andrej brauchte sich nicht umzudrehen um zu wissen, dass er in dem Display nur noch die Spiegelung seines eigenen Gesichts sehen würde.
Da war nur noch Stille. Stille und ein langsam kleiner werdender blauer Fleck.


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